Das Ereignis – Kritik
Das Blut des Tabus. In ihrer Verfilmung eines Buchs von Annie Ernoux erzählt Audrey Diwan von einer jungen Frau, die abtreiben will, aber nicht darf. Das Ereignis ist ein einziger Wettlauf gegen die Zeit und zugleich von einer schrecklichen Einsamkeit durchzogen.

Eine junge Frau von hinten. Die Kamera folgt ihr überall hin, klebt förmlich an ihrem Nacken, rückt nicht von ihr ab; etwas Unheilvolles, das nicht über ihr schwebt, sondern an ihr haftet, etwas, das man nicht mehr abschütteln, nicht mehr abwenden kann. Denn das Unheil hat seinen Weg bereits gefunden, hat sich schon in Anne (Anamaria Vartolomei) eingenistet: „die Krankheit, die nur Frauen bekommen – und die sie zu Hausfrauen macht“, wie Anne später darüber sagen wird.

Die junge Frau studiert Literaturwissenschaften in Angoulême, bereitet sich auf eine Aufnahmeprüfung vor. Wir sind in den Sechzigern, abends geht man tanzen, aber nie ganz ausgelassen; alle wollen’s treiben, aber die wenigsten trauen sich. Die einen üben sich in Geduld, studieren Pornohefte und erkunden allein den eigenen Körper; die anderen flüchten in rigoroses Überwachertum, erklären sich selbst zu Ordnungshüterinnen und drangsalieren diejenigen, die sie zu freizügig wähnen. Manche, wie Annes Freundin Hélène (Luàna Bajrami), haben Glück: Der Sex bleibt ohne Folgen. Anne hat kein Glück.
Wettlauf gegen die Zeit

Für Anne ist klar, dass sie diese Schwangerschaft nicht will. Mit ihrem Studium der Literaturwissenschaften hat sie sich auf Bewährung dem Arbeitermilieu entzogen, aus dem sie stammt; stolz, aber aus der Ferne derer, denen der Aufstieg verwehrt geblieben ist, blicken die Eltern, die sich in einer Kneipe abmühen, auf die erfolgreiche Tochter. Annes Professor (Pio Marmaï) erkennt in ihr gar eine künftige Kollegin. Doch all das – der Bildungsaufstieg, die Selbstbestimmung, die Selbsterfüllung – steht mit der ungewollten Schwangerschaft plötzlich auf dem Spiel. Es beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit, den Regisseurin Audrey Diwan mit der Einblendung der jeweiligen Schwangerschaftswoche erbarmungslos betont.

Die Untersuchung, in der Annes Schwangerschaft festgestellt wird, spricht vom gesellschaftlichen Klima, dem Diwan in ihrem Film nachspürt. „Hatten Sie schon mal Geschlechtsverkehr?“, fragt der Arzt – „Nein“, sagt Anne. „Noch nie?“ – „Nein“. „Keinen Freund?“ – „Nein“. „Sie sind schwanger. Es tut mir leid.“ Die Gesellschaft, die Diwan porträtiert, ist keine, die neues Leben bedingungslos bejaht; oft zeigt sich, wie bei diesem Arzt, ein Ansatz von Verständnis und Mitgefühl. Doch es ist eine Gesellschaft, die sich bedingungslos hinter das gesetzliche Abtreibungsverbot stellt und deshalb Annes Not nicht hören, nicht sehen will. Mehr noch als der drohende Verlust ihres selbstbestimmten Lebens durchzieht eine schreckliche Einsamkeit diesen Film: Niemand kann Anne helfen, niemand öffnet ihr den Raum, ihr Problem zu benennen, ihre Gefühle überhaupt zu artikulieren – kein einziges Mal fällt in diesem Film das Wort „Abtreibung“.
Leidensweg

Diwan inszeniert die ungewollte Schwangerschaft – vielleicht wenig originell – als etwas, das Annes Körper befällt, als einen Parasiten, der sich in ihr breitmacht. Immer wieder gibt es dem Kinoauge vertraute Spiegel- und Duschszenen, in denen das körperliche Unbehagen deutlich wird, und das im Grunde absurde Ungleichgewicht: dass eine erwachsene Frau mangels gesellschaftlicher Unterstützung nichts gegen ein acht, zehn, zwölf Wochen altes Leben anrichten kann. Aber Das Ereignis ist kein Kampf zwischen Anne und dem ungeborenen Leben; nicht darauf richtet sich Annes Wut und Entschlossenheit, sondern auf die gesellschaftlichen Umstände, die es unmöglich machen, als alleinstehende Mutter zu studieren und erfolgreich zu sein. Es geht nicht darum, dass Anne kein Kind will – es geht darum, dass sie das will, worauf sie mit einem Kind verzichten müsste.

Das Ereignis ist keins – es ist ein langer Leidensweg, der sich erbarmungslos hinzieht. Vom ersten Arzt, den Anne um Hilfe anfleht, über den ersten, allein durchgeführten Abtreibungsversuch bis hin zur tatsächlichen Abtreibung, die Anne für 400 Francs bei einer erfahrenen „Engelmacherin“ machen lässt. Die Versuche werden immer brutaler, immer schmerzhafter; Diwan in ihren Darstellungen immer weniger zimperlich. In einer großartigen Schlussszene muss Olivia (Louise Chevillotte), eine von Annes weniger forschen Mitbewohnerinnen, in ihrem brav zugeknöpften Nachthemd Anne die durch den Abort abgestoßene Nabelschnur abschneiden. Nun haben endlich auch die säuberlichen Moralhüterinnen das Blut ihrer unterdrückenden Tabus an den Händen.
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