Cuckoo – Kritik

In einem Hotel in den Alpen zerfällt einer überforderten Teenagerin die Realität. Wie Tilman Singers zweiter Film Atmosphäre schafft, ist ein Erlebnis für sich. Dann schlägt Cuckoo den Weg in die lustvolle Selbstvertrashung ein.

Im Roman Zieh dich aus, du alte Hippe wird Kommissar Schneider vom Antagonisten in einem Keller festgesetzt. Die Lage scheint aussichtslos, bis der Ermittler die entscheidende Idee hat. Er wird surreal! Die Realität verschwimmt kurzzeitig, und er ist frei. Je länger Tilman Singer zweiter Spielfilm Cuckoo läuft, desto deutlicher fühlt es sich an, als sei der Regisseur und Autor ebenso verfahren, um sich aus einer Sackgasse zu befreien. Nur setzt er diese Strategie nicht so punktuell und vor allem nicht explizit ein. Die Realität erscheint schon von Beginn an nicht solide, und wenn der Film in einem absurden Shootout endet, ist nicht das Problem, dass dies latent surreal ist, sondern dass Singer kein rechtes Ende für seinen atmosphärischen Aufbau findet und Cuckoo in grelle Absurdität umschlagen lässt.

Fremdeln mit dem neuen Land

Aber der Reihe nach: Die 17-jährige Gretchen (Hunter Schafer) hat ihre Mutter verloren und zieht deshalb zu ihrem Vater (Marton Csokas). Der siedelt gerade mit seiner Frau und seiner 6-jährigen Tochter aus dieser zweiten Ehe ins Resort „Alpenschatten“ – er soll dort die Erweiterung der Hotelanlage überwachen. Die gesamte Situation stellt Gretchen vor Probleme. Sie ist von ihren Freunden/ihrer Band in den USA getrennt. Mit ihrer Stiefmutter will sie eh keinen Kontakt. Und statt Sicherheit birgt die neuen Familie nur Irritation. Gretchen fremdelt mit der stummen Schwester, dem Vater, dem zudringlichen Resortleiter Dr. König (Dan Stevens), dem neuen Land.

Das Gefühl, nicht dazuzugehören, übersetzt Cuckoo in einen Mysterythriller. Beim Job an der Rezeption fällt Gretchen auf, dass sich ständig Gäste übergeben. Dass Dr. König jede Antwort darauf umgeht, warum das Hauptgebäude des Resorts pünktlich um 22 Uhr geschlossen sein muss, hebt das Vertrauen nicht unbedingt. Es kommen dissoziative Momente hinzu, durch Kreischen ausgelöste kurze Zeitschleifen, die die Leute in einer Situation einsperren, eine Frau, die durch die Nacht jagt – hinter Gretchen her –, und ein verdeckt ermittelnder Polizist.

Twin-Peaks-Fanfiction

Wie unlängst bei Longlegs (2024) läuft es im Grunde auf Twin Peaks-Fanfiction hinaus, auch Cuckoo greift sich ein Motiv der stilprägenden Serie heraus, um es aus- und umzuarbeiten. Statt einer FBI-Agentin, die nach einem übernatürlichen Serienkiller sucht (Longlegs), handelt diese Variante eben von einem normalen, traumatisierten Mädchen, dessen Realität in einem Hotel im Wald auseinanderbricht und mit einer übernatürlichen, unerklärten Bedrohung angereichert wird. (Passend ist auch, dass sich in David Lynchs Serie dieser entscheidende Bruchpunkt findet: Nachdem der Sender Lynch gezwungen hatte, die Identität des Mörders aufzudecken, folgten fast nur noch Episoden, die die eigene Absurdität herauskehrten.)

Wie in Luz (2018), Tilman Singers Abschlussfilm, ist in Cuckoo erst einmal alles Atmosphäre. Lange lebt der Film ganz von seinem Tondesign, von Übergängen und Brüchen zwischen Musik, Geräuschen und Stille. Von verräterischen Schatten, Dingen, die im Augenwinkel geschehen, von optischen Einfällen, Toilettenkabinenklinken, die zu nachdrücklich gedrückt werden, während Gretchen auf dem Klo sitzt. Von der Divergenz der Kommunikationsformen. Von der kontrollierten Schmierigkeit, mit der Dan Stevens seinen Dr. König spielt. Von ins Bild gesetzten Unterschieden zwischen Schweigen zur Situation und dem leisen und lauten Aufbegehren dagegen.

Auch Singers zweiter Film probiert sich aus und ist lange Zeit erfolgreich darin, uns potente Bilder zu zeigen. So sehr diese auf bleibenden Eindruck aus sind, so grundsätzlich bleiben aber auch die Lücken und Schatten, die unsere Fantasie nur allzu gern auszufüllen beginnt. Dieses darin liegende Fremde, das Nichtverstehen und Ahnen, es zeichnet die Probleme eines überforderten Teenagers nach, der sich komplett neu finden muss, der seine Identität und sein Heim neu entwerfen muss. Darin wird Deutschland zur bedrohlichen Melange aus heimatlicher Tradition und klinischer Moderne, aus Natur(-schutz) und Technik(-wahn). Ganz von all diesen möglichen und expliziten Kontexten abgesehen, ist dies alles aber auch einfach ein Erlebnis für sich.

Nur keine losen Enden liegen lassen

Wie in Twin Peaks werden wir aber nicht im Zustand der Unklarheit belassen. Am Ende wissen wir zumindest grob, wer wer ist, wo die Fronten liegen, und halbwegs wissen wir auch, was es mit den Kuckucksmenschen auf sich hat. Dieses einsetzende Streben nach Klarheit beraubt Cuckoo aber seiner Stärken. Die zu füllenden Schatten nehmen ab, und so sucht der Film die Flucht nach vorne. Klassische Horrorfilmtropen (Verstecken in einer Bibliothek, Schauen durch die Buchreihen, doppelte Spiegel) nehmen zu, und doch warten hier nun nicht mehr Bilder aus Albträumen, sondern Szenen (mit schießwütigen Spießbürgern), die eher albern als stimmungsvoll sind.

Doch bei aller grellen, lustvollen Selbstvertrashung, die das Beste daraus machen möchte, dass keine losen Enden liegen bleiben dürfen, eines bleibt konstant: Hunter Schafer als patzige Fasterwachsene, die nicht glauben kann, was um sie herum geschieht, ist schlicht sensationell. Der Kampf mit ihrer Frisur, mit ihrem Körper, mit ihrer Umwelt und ihrer Fähigkeit, darauf zu reagieren, arbeitet in ihr. Und sie arbeitet sich ab. Ihr Trotz und ihr Wille, nicht aufzugeben, halten die Spannung hoch. Und die gute Nachricht ist, dass Gretchen sich zumindest sexuell gefunden zu haben scheint, so schnell wie sie mit einer Eincheckenden rumknutscht.

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