Critical Zone – Kritik
Koks-Taxi Teheran. Ali Ahmadzadehs radikaler Locarno-Gewinner Critical Zone begleitet einen Drogendealer und wirft dabei einen komplett unverschleierten Blick auf die iranische Gesellschaft.

Geschafft: Nach einem langen Arbeitstag in der Unterwelt Teherans liegt Dealer Amir (Amir Pousti) erschöpft auf seiner Schlafcouch. Dass seine Bulldogge Mr. Fred wie wild auf Amirs Bein einrammelt, stört ihn offenbar nicht. Auch als Mr. Fred fertig ist und sein eigenes Sperma von Amirs Bein leckt, rührt der junge Mann sich nicht. Es wird nicht der einzige Orgasmus in diesem Film bleiben.
Hundesex und Drogenhandel

Critical Zone (Mantagheye bohrani) gehört – das kann man ohne Übertreibung sagen – zum Radikalsten, was das ohnehin wagemutige iranische Kino in den letzten Jahrzehnten hervorgebracht hat. Für die Generation von Regisseur Ali Ahmadzadeh (Jahrgang 1986) ist die Zeit der Anpassung vorbei. Einst demonstrierten junge IranerInnen auf der Straße – heute hauen sie den Mullahs den Turban vom Kopf. Früher schoben Frauen das ihnen aufgezwungene Kopftuch immer weiter nach hinten – heute weigern sich einige, überhaupt eines zu tragen, Religionspolizei hin oder her. Und während viele ältere iranische FilmemacherInnen immer wieder die Grenzen der staatlichen Filmzensur austesten (und dafür mitunter im Gefängnis landen, zu Hausarrest verdonnert werden, Arbeitsverbote erhalten oder ins Ausland gehen müssen), erkennt Ali Ahmadzadeh dieses System gar nicht erst an. Critical Zone hat er Guerilla-style gedreht: ohne Genehmigung, mit versteckbaren Kameras. Dass das Regime vor der Weltpremiere Druck auf ihn ausübte, den Film zurückzuziehen, scheint ihn nicht gerührt zu haben. Der Lohn: Hauptpreis beim renommierten Festival von Locarno – und ein Ausreiseverbot.
Critical Zone beginnt in den verschlungenen Tunneln unterhalb Teherans. Ein mit Drogen vollgestopfter Krankenwagen fährt durch einen stellgelegten Schacht, eine riesige Tür öffnet sich – dahinter warten Männer, die die Ware als Einzelhändler verticken werden. Aus den staubigen Katakomben geht es nach draußen in die Stadt, in Amirs Wohnung. Minutenlang sehen wir zu, wie Amir nur in Unterhose durch die Zimmer läuft, Gras, Haschisch und Opium zerkleinert, abwiegt und in Tüten verpackt. Das iranische Independent-Kino ist bekannt dafür, an dem Türschloss zu rütteln, hinter dem sich die zahlreichen Tabus der islamischen Theokratie verbergen – meist müssen die KünstlerInnen dabei aber relativ subtil vorgehen. Ahmadzadeh hingegen zündet schon in den ersten zehn Minuten das gesamte Haus an: mit Hundesex, einem halbnackten Mann und hochprofessionellem Drogenhandel, der einen eklatanten Kontrollverlust des politischen Systems offenbart.
Mit dem Auto quer durch die Gesellschaft

Den Rest des Films verbringt der Protagonist größtenteils im Auto – ein wiederkehrendes Motiv im iranischen Kino, da Autos Freiheit versprechen und zugleich einen privaten Schutzraum bieten. Nur geht es hier eben nicht um eine Reise oder Taxifahrten, sondern um einen Drogenkurier, der neben den illegalen Substanzen oft auch seine Kundschaft durch die Stadt transportiert – zumeist junge, relativ wohlhabende Frauen. Dass diese ihr Kopftuch im Auto ablegen oder gar nicht erst eines tragen, inszeniert Ahmadzadeh nicht als Provokation, sondern ganz beiläufig.
Amirs Autofahrten geben also völlig unverschleierte Einblicke in die iranische Gesellschaft: Mal begegnet er Junkies oder schwulen Straßenprostituierten, mal trifft er Menschen aus der gebildeten Mittelschicht, die entweder ins Ausland fliehen – oder eben in die Betäubung durch Drogen. Amir selbst popelt, furzt und schmeißt mit Schimpfwörtern um sich. Kurzum: Critical Zone zeigt das echte, ungeschönte Leben. Über den Bildern liegt dabei stets ein grau-brauner Schleier der Hoffnungslosigkeit.
Gleichzeitig durchbricht Ahmadzadeh diesen Sozialrealismus mit desorientierenden Verfremdungseffekten und ins Surreale abdriftenden Sequenzen. In einer Szene stehen die Bilder plötzlich Kopf, weil Amir eine Tänzerin besucht, die sich gerade in einer Kopfüber-Position befindet. Ein anderes Mal ist die Kamera am Lenkrad des Autos befestigt und rotiert bei der Fahrt um mehr als 360 Grad, sodass einem im Kinosaal fast schwindlig wird. Das Sound Design dreht viele Umweltgeräusche herab, sodass alles distanziert klingt, wie in Watte gepackt – einzelne Töne werden hingegen isoliert und verstärkt, etwa die Ansagen von Amirs Navi-App, aber auch diverse Grunz- oder Stöhnlaute aus dem Off.

Orgasmische Verfolgungsjagd
In einer verstörenden Passage, die auf angenehm rätselhafte Weise quer zum Rest des Films steht, unterbricht Amir seine Lieferfahrten und besucht ein Altenheim, in dem nicht nur Zeitschleifen – wie in Shahram Mokris Mindfuck-Horror-Experiment Fish & Cat (Mahi va gorbeh, 2013) – auftreten, sondern auch eine leicht laszive, sehr unislamisch gekleidete Pflegerin, die die ihr anvertrauten Patienten auf eine Weise streichelt, die irgendwo zwischen Fürsorge und Erotik schwebt. Minutenlang schauen wir dabei auf die ausgemergelten, dem Tode nahen Körper der BewohnerInnen, die mit weit geöffneten, wie zu einem stummen Schrei geformten Mündern im Bett liegen.
Der absolute Höhepunkt ist jedoch eine Episode, die als erotisch aufgeladene Drogeneskapade beginnt und sich dann völlig unerwartet in etwas hineinsteigert, das man als orgasmische Verfolgungsjagd beschreiben könnte. Am Ende dieser Fahrt lehnt sich eine junge, unverschleierte Frau mit weit geöffneter Bluse aus dem Fenster des rasenden Autos und schreit voller Inbrunst „Fuck youuuuu! Yessss! Fuck youuuu!“. Wer oder was damit gemeint ist, dürfte nicht nur den staatlichen Zensoren klar sein, sondern auch all jenen IranerInnen, die Critical Zone dank des im Lande florierenden illegalen Filmhandels sehen werden.
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