Copenhagen Cowboy – Kritik
Ob es eine zweite Staffel geben wird, kann bezweifelt werden: Nicolas Winding Refns Netflix-Serie über die Unterwelt der dänischen Hauptstadt zeigt seine Obsessionen in ihrer schönsten Form und ist auch für Fans teils eine Grenzerfahrung. Ein Sehtagebuch.

Copenhagen Cowboy, die neue Serie von Nicolas Winding Refn, oder NWR, wie er sich seit The Neon Demon (2016) vermarktet, bietet auf der Oberfläche sehr viel gewöhnliche Crime- und Pulpelemente: arische Vampire, albanische Menschenhändler, chinesische Heilerinnen, baltische Consiglieri – Dänemark also in all seiner multikulturellen Spannung. In ihrem Kunstwillen ist sie aber weit entfernt von dem, was Netflix unter Nordic Crime vermarktet. Es gibt hier Verschiebungen und Neuanordnungen innerhalb der Obsessionen von NWR, aber kein Abweichen von dem Pfad, den er seit Only God Forgives (2013) eingeschlagen hat. Wer damals abgekehrt ist, sollte nicht zurückkehren.
Dieser Pfad führte seitdem vermeintlich auch mehr und mehr zum Fernsehen und zum Streaming. Vermeintlich, weil das zwar strukturell stimmt, aber er sich ästhetisch und im Erzähltempo niemals angepasst hat. Es gab für Copenhagen Cowboy einen Writers’ Room (Sara Isabella Jønsson, Johanne Algren und Mona Masri), aber Refn atmet immer noch Neon und schwenkt die Kamera langsam durch die Räume oder um sich selbst. Die Serie erreicht dabei nicht die Höhen, die Refn mit dem Vorgänger Too Old to Die Young (2019, für Amazon Prime) erreichte, hält dessen Feuer aber konstant am brennen. Copenhagen Cowboy ist eine Übung in Zeit und Sich-Zeit-Lassen, der man sich öffnen muss. Deswegen auch ein Text in Episoden und wie ein Tagebuch. Eine Woche, die ich mit dieser Serie verbracht habe.
Spoiler von nun an.
Miu the Mysterious (6.1.2023)

Man bemerkt die Neuerungen vor allem darin, dass Refn nicht mehr das Skript schreibt. Leute reden gewohnt wenig, aber wenn sie reden, führen sie normale Gespräche. In der Bildsprache werden die Emotionen weiterhin vor allem durch die Körper ausgedrückt. Muskeln spannen sich an, wenn sie Gewalt ausüben, aber auch, wenn sie Gewalt erfahren. Arme würgen ein noch verdecktes Gesicht. Hände streicheln Miu, um sie in den Kreis aufzunehmen. Miu (Angela Bundalovic) ist ein Medium, eine Glückspenderin. Sie betritt eine Welt, in der die familiären und die ökonomischen Rollen der Bewohner direkt korrelieren. Rosella (Dragana Milutinovic) ist Albanerin, abergläubisch und die Halbschwester von André (Ramadan Huseini), einem Bordellbesitzer und Menschenhändler. Sie will schwanger werden und bezahlt Miu, um das Haus mit den notwendigen Vibes zu versehen. Sie ist fester Teil des Familienunternehmens, putzt in Andrés Bordell und macht die Räume.
Zu Hause lässt sie sich wie eine Königin behandeln. Das Selbstporträt an der Wand ist Witz und Warnung. Ihr Mann ist Schwede, und wenn er spricht, quiekt er wie ein Schwein. Er hat sie geheiratet für die Papiere, vergewaltigt Andrés Frauen, die im Keller von Rosellas Haus wohnen. Dorthin wird Miu auch verbannt, als Rosellas Temperament umschwingt, nachdem sie eine Fehlgeburt erleidet. Während der Episode entspinnt sich eine zaghafte Romanze zwischen Miu und Cimona (Valentina Dejanovic). Sie planen, gemeinsam wegzulaufen. Cliff Martinez’ Score erzählt das mit einer weichen Proto-Goth-Bassline, doch die zerbricht an der versprochenen Gewalt. Ein schöner dänischer Mann bringt Cimona um und schreit dabei wie ein Schwein.
„It’ll take time“ – die ersten Worte, die Miu spricht – sind ein Versprechen und eine Drohung.
Vengeance Is My Name (7.1.2023)

Immer Blau oder Rot im Bild. Wasser oder Wind auf dem Soundtrack. Die Gardinen in Andrés Bordell hängen so dicht und so hoch, wer soll hier noch Sonnenlicht sehen? Später ein sanfter, thereminartiger Sound, als Rosella Miu an André verkauft. Sie ist noch Jungfrau und damit mehr für ihn wert, soll versteigert werden. „We will make a video. It will be a hit.“ Plötzlich Gelb und neue Spannungen. Andrés Tochter, Flora (Dafina Zeqiri), arbeitet ebenfalls im Bordell und sieht heimlich Dordan, einen von Andrés Männern. Miu beobachtet das und gibt es an André weiter. Sie erkauft sich damit Zeit, NWR indessen erlaubt es seit Only God Forgives, inzestuöses Begehren und die damit einhergehende Emaskulation als einen Fetisch zu zeigen, dem sich die Männer in seinen Filmen bewusst hingeben.
André präsentiert sich auf einem Chaiselongue liegend und dichtet den Text für Mius Versteigerung: „Does anyone have a synonym for ‚thin‘?“ / „Petite, it’s French“. In der ersten Folge sahen wir Flora auf dem Chaiselongue, jetzt nimmt sie den Platz auf dem Chefsessel ein, Füße auf dem Tisch. Die Positionen wurden getauscht. André fletscht die Zähne und wütet, spielt den Patriarchen, aber Flora liebt Dordan und wird ihn heiraten. Man tanzt und feiert. Miu nimmt währenddessen eine Schere, ersticht mithilfe der anderen Frauen ihren Aufpasser und flüchtet. Sie rennt und rennt, bis sie ein chinesisches Restaurant findet. Blau und Rot sind hier im Einklang, und Miu sieht Gelb, Flammen lodern auf.
Das Restaurant wird von Jang (Li li Zhang) geführt, die ebenfalls Schweine hält, aber auf Freiland und nicht in den industriellen Ställen, die wir in der ersten Episode gesehen haben. In ihrer zweiten Identität ist sie Mother Hulda, hilft den ansässigen chinesischen Frauen bei der Geburt. Miu assistiert ihr und gibt dem fehlgeborenen Baby seinen Herzschlag zurück. Miu, die Violette. Miu, die von Aliens entführt wurde. Miu, die miaut, als Jang sie fragt, ob sie ein 鬼 (Gespenst) ist, aber man sollte sicherheitshalber immer nachfragen. Miu, die Rosella und ihr Haus am Ende niederbrennt.
Dragon Palace (8.1.2023)

Von Kino zu TV. TV, weil die Kamera einfach ihre Kreise zieht. „A new name and a new life at Dragon Palace.“ Miu wird zu Cimona, findet etwas Frieden, aber Jang füttert immer noch die von Mr. Chang (Jason Heudil-Forssell) gelieferten Leichen an die Schweine. Mr. Chiang, der ihre Tochter entführt hat, die sie nie wiedersehen wird, wenn sie nicht ihre Schulden begleicht. Mr. Chiang, der die illegale Boxszene Kopenhagens dominiert. Mr. Chiang, der an einer Migräne leidet, die Miu für ihn heilt. Von Kino zu TV, weil wir anhalten und die Welt vergrößern.
Der mysteriöse Mörder aus den vorherigen Episoden ist Nicklas (Andreas Lykke Jørgensen), schön wie eine Statue und das Ende einer langen dänischen Blutlinie aus Vampiren und Serienmördern. Miu soll sein nächstes Opfer werden. Sie teilen eine psychische Verbindung, ein Rauschen hinter der Blumentapete. Er hat zwei kleine Hausschweine und zwei Eltern, die ihm genauso verehren wie sich selbst. Ihre Familie besitzt die industriellen Schweineställe, die wir in den vorherigen Episoden gesehen haben, und Jang muss zu ihnen in die Villa auf dem Hügel, um ein neues Schwein zu kaufen.
Jede Welt, die NWR erschafft, ist ähnlich kalibriert. Immer im Gleichgewicht, bis sie für einen Moment aus den Fugen geworfen wird. Die Veränderungen zwischen diesen Welten sind minimal, aber stetig. Sie sehen seit Drive gleich aus, bewegen sich gleich, sprechen gleich, und doch gab es bisher keine Geister in Refns Welt, was sich hier ändert. Während Miu auf Jang wartet, sieht sie Cimona wieder. Martinez bringt den Wind zurück, bricht ihn wieder durch Thereminklänge auf und unterlegt das Ganze mit Synths wie Messerstichen. Cimona führt Miu näher zu Nicklas, und Miu beschließt zu bleiben und sie zu rächen.
From Mr. Chiang with Love (9.1.2023)

Das Wasser schreit Mius Namen, drängt auf sie ein, bis die Bilder durch die Überlagerung eins werden. Nicklas erwartet sie. „What do you see?“ / „I see all of them.“ Fünf Minuten später gibt es den Showdown im Schweinestall, und Miu lauert auf dem Gitter wie ein Leopard vor dem Sprung. Es ist das erste Mal, dass wir sie kämpfen sehen, und sie dominiert Nicklas mit ihrem Kung-Fu. Schnelle Reflexe, kontrollierte Schläge in Lunge, Bauch und Schläfe. Die Schweine erledigen den Rest. Nicklas überlebt, aber schwer verstümmelt und ohne Penis, der rekonstruiert werden soll. Miu muss schon weiter zu Mr. Chiang. Die Beziehung zwischen ihnen vertieft sich. Er zeigt ehrliche Dankbarkeit und bietet ihr die Welt an, aber als sie nach Jangs Tochter fragt, verhärtet er.
Misogynie bleibt auch hier die letzte Kampflinie. Die Männer wollen sich versichern, dass die Frauen ihren Platz im System halten. Und doch macht Miu einen Deal mit ihm. Auch weil das hier TV ist und ein neuer Plot hermuss, neue Konflikte, ein höherer Einsatz und eine weitere Welt. Das ist so künstlich und schön wie die langsamen Kameraschweife, die Refn immer und immer und immer wieder dazwischen einstreut.
„Lykkemønt“ ist das Zauberwort, das die Pforten öffnet: Zu dem Unterweltsanwalt Miroslav (Zlakto Buric a.k.a. Milo aus Pusher bis Pusher III, 1996–2003, als ob diese Referenzen hier noch Bedeutung hätten), den Miu aus ihrem vorherigen Leben kennt. Es ist weniger wichtig, was dieses Leben war und wie es endete, als zu wissen, dass es existierte. Egal wie verschwiegen und verschlossen der Charakter gezeichnet und gespielt ist, sie gehörte immer zur Welt. Kann (wieder)erkannt werden. Beziehungen aufbauen. Miroslav verknüpft sie mit den Drogenhändlern Bjarke (Gustav Hejlesen) und Polixen (Nicki Dirchsen Hansen), und schon bald wird Miu Läuferin für Danny (Ebriama „Eebz“ Jaiteh). Drogendealen ist hier auch nur wie jedes andere Business. Komme ausgeschlafen, auch zur Nachtschicht. Arbeite dich langsam bis in die Verwaltung rauf. Pass auf, dass die Klappmesser dich nicht treffen. Träume von einer Zukunft.
Copenhagen (11.1.2023)

Die Stadt brennt, und es herrscht Krieg. Eine Eskalation, die sich angedeutet, aber nicht aufgebaut hat und jetzt einfach da ist. Gnadenlos. Weil es ein Ende geben muss. Für die Serie und/oder für diese Welt? Was wieder nach der Weltsicht fragen lässt. Ein Europa, in dem die Europäer selbst arische Vampire und Kultanführer sind. Die Männer beschäftigen sich mit ihren Körpern und der Konstruktion ihrer eigenen Schwänze. Das Blut zirkuliert inzestuös in den eigenen Reihen: Nicklas opfert seine Mutter, um seine Schwester zu bekommen. Weil Rakel (Lola Corfixen –Refns älteste Tochter) stärker als er ist, weil sie ihn rächen kann. Ein Europa, das von Migranten gebildet und geführt wird, was es aber nicht stabiler macht, sondern nur direkter. Schulden sind Schulden, eine Bürgschaft eine Bürgschaft. Jeder Schuss trifft. Dazwischen Miu, die wenn nicht Rache, dann Gerechtigkeit will. Wie Osiris im ägyptischen Totengericht wiegt sie die Herzen dieser Unterwelt gegen die Maat. Wer sich verändern kann und wer sterben muss.
Ästhetisch ist das sogar für einen Befürworter wie mich eine Grenzerfahrung. Horizontale Splitscreens mit Panoramaschwenks kicken einfach nicht auf der Größe eines Laptopdisplays. Der Muttermord als metaphysischer Akt, in dem sich Körper und Projektion des Körpers vollkommen trennen, fokussiert wiederum Refns Obsessionen in ihrer vielleicht schönsten Form. Auf jeden Fall liegt eine interessante Spannung darin, diese Welt so zu erzählen, diese Direktheit mit dieser Stille zu begegnen.
The Heavens Will Fall (12.1.2023)
Die Welten von NWR mögen sich immer ihre Freiheiten nehmen, aber die interne Logik bleibt.
(1) Jeder Wald braucht seinen Jäger und jeder Vampir ein Herz. Dem Wald wird das Neon verwehrt, es gibt nur die unendlichen Wind- und Thereminklänge und das karge dänische Winterlicht. Wer hier stirbt, bleibt stecken.
(2) Mr. Chiang wehrt sich, Mother Hulda ihre Tochter zurückzugeben, weil sie auch seine Tochter ist. Wie Dusan (Slavko Labovic), Miroslavs Freund, den er hinrichten ließ, schwört er sich zu verändern. „Do you dare to heal my heart?“

Doch Liebe ist für ihn nur ein weiteres Mittel zur Kontrolle. Der Kampf zwischen Mr. Chiang und Miu ist die Art von phantasmagorischer Überzeichnung, die Refn nur sehr gezielt einsetzt, aber dann mit voller Kraft. Ein Kampf, der weniger über Körper als über Licht und Ton ausgetragen wird und damit vor allem Kino ist. Rakel ist beherzt und streift sich einen roten Tracksuit um. Sie wird auf die Jagd gehen. Miu streift durch den Wald und sammelt Geister (die Credits listen sie als Miu 1, Miu 2, Miu 3 …) War die Gewalt, die von Nicklas ausging, bisher immer gegen Migranten gerichtet, sehen wir sie hier ebenmäßiger verteilt, auch in den dänischen Gesichtern, unter anderem in der Person von Liv Corfixen, Refns jüngerer Tochter.
Refn war sehr offen darüber, wie sehr Too Old to Die Young, eine Serie, in der Miles Teller in der Hauptrolle einen wenn nicht pädophilen, so mindestens groomenden Cop spielt, die Angst widerspiegelt, seine Töchter in eine Welt zu geben, die in ihrer Essenz verdorben ist. Hier sehen wir nur die Weiterführung des Gedankens auf bekannterem Terrain. Die Konfrontation muss warten. Refn spielt die Regeln des Fernsehens und deutet etwas unbeholfen eine zweite Staffel an. Das Ganze erinnert etwas an eine Katze, wenn sie zum Sprung ansetzt. Die Intention ist erkennbar, das Ziel klar vor Augen, die Herzen aller auf ihrer Seite, aber die Umsetzung reines Chaos.
Man lehnt sich nicht zu weit aus dem Fenster, wenn man wettet, dass diese zweite Staffel nicht kommen wird. In ihrem Text über Bela Bajaria und den aktuellen Stand bei Netflix zitiert die New-Yorker-Autorin Rachel Syme Co-CEO Ted Sarandos’ Wunsch, Netflix möge sich nicht auf eine Schiene festlegen („bottlenecked behind one sensibility“), es müsse den größtmöglichen Markt abdecken. Serien wie Copenhagen Cowboy passen nicht in dieses Profil. Über die sieben Tage, in der ich die Serie gesehen und über sie geschrieben habe, war sie kaum auf den Startbildschirm des Streamingdienstes sichtbar. Der Algorithmus schreitet voran, unnachgiebig und unanfechtbar.

Bleibt die Frage nach Refns Zukunft. Vielleicht ist der Weg in den Mainstream ihm nicht ganz versperrt. Aber in den Jahren seit Only God Forgives hat er sich ihm bewusst entfremdet, was ihn künstlerisch nur weitergebracht hat. Man wird diese Serie als einen Stillstand abschreiben wollen, aber sie verfeinert und differenziert nur seine Tendenzen und Interessen. Zwei der drei großen Streamer, die blind Schecks nach Autoren werfen, hat er nun abgegrast, und Apple+ ist in seinen Projekten deutlich methodischer als Amazon oder Netflix.
Es ist interessant, wie sehr Too Old to Die Young und Copenhagen Cowboy in ihrer Produktionsgeschichte auch von einem Wandel in der entsprechenden Firmenpolitik erzählen. Die Zeiten, in denen man gezielt mit Autorenfilmemachern flirtete, sind vorbei. Beide Serien erscheinen, nachdem dieser Wandel gemacht wurde, wie Relikte aus einer vergangenen Zeit. Refn drückt sich sehr klar darüber aus, dass Kunst immer auch kapitalistisch funktionieren muss, seine eigene eingeschlossen. Er macht auch die notwendigen Mundbekenntnise zu den „sehr guten kreativen Beziehungen“, die er mit Netflix „pflegt“. Über das Outro spielt Back to the Drive von Suzi Quatro. Wohin die Fahrt geht, bleibt erstmal offen, wichtig ist nur, in Bewegung zu bleiben!
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