Abteil Nr.6 – Kritik

VoD: Mit dem Zug von Moskau nach Murmansk. Bei Lauras Trip durchs karge Russland der späten Jelzin-Jahre bleibt die Vergangenheit auf der Strecke, dafür weckt Juho Kuosmanens Abteil Nr. 6 Hoffnung auf ein Ende des Winters.

Die berüchtigten feinen Unterschiede stehen am Anfang der Begegnung zwischen der finnischen Archäologiestudentin Laura (Seidi Haarla) und dem russischen Bergbauarbeiter Ljoha (Yuriy Borisov). Wobei das Ganze zunächst nicht allzu fein daherkommt: Eng ist das titelgebende Abteil Nr. 6 (Hytti nro 6) in der zweiten Klasse des Zuges von Moskau nach Murmansk, in dem sich Ljoha im Moment des Kennenlernens mit unangenehmster Schroffheit ausbreitet. Es wird gesoffen und geraucht, und ist der richtige Pegel erreicht, fuchteln Ljohas Hände vor Lauras Gesicht herum, breiten sich Qualm, Glut und die vulgäre Sprache im ganzen Raum aus und geben Laura keine Sekunde, sich in ihr Bett oder unter ihre Kopfhörer zurückzuziehen. Vor allem Lauras Herkunft ist für Ljoha ziemlich amüsant: Er fragt, was denn „Ich liebe dich“ in ihrer Sprache heiße, sie antwortet mit den finnischen Worten für „Fick dich“.

Den schwereren Weg gehen

Am Beginn könnte man noch denken, Ljoha sei nur eine von mehreren merkwürdigen Stationen auf Lauras Trip durch ein karges Russland der späten Jelzin-Jahre zu den Petroglyphen von Murmansk. Aber er bleibt da, schießt sich auf sie ein, und schnell ahnt man, dass da doch noch eine Annäherung möglich ist. Dass diese dann in keinem Moment zur kitschigen Vision zur Überwindung sozialer Ressentiments verkommt, liegt daran, dass die Klassengrenzen nicht mit irgendwelchen von außen auftretenden Gemeinsamkeiten übergangen werden. Stattdessen lohnt es sich, dass Regisseur Juho Kuosmanen mühevollere Wege geht: Eigentlich wollte Laura mit ihrer Geliebten Irina (Dinara Drukarova) reisen, die als Professorin in Moskau lebt, aber die hat sich im letzten Moment doch umentschieden und findet selbst für die sporadischen Telefonate weder Zeit noch Konzentration. Die habituellen Differenzen bleiben stabil, und so verkörpert Ljoha etwas, das Laura fehlt: Wenn die Beziehung in Moskau mit Unverbindlichkeiten und Vernachlässigung enttäuscht, kann so ein stets auf die Pelle rückender Russe in einem Zug durch die endlose Taiga auch einen ganz eigenwilligen Charme kriegen.

Bewusste Binsenhaftigkeit

Ein paar Binsenweisheiten geistern durch Abteil Nr. 6, hören dabei auf, bewusstlose Phrasen zu sein, und fangen an, einem tatsächlich etwas zu sagen. Natürlich sind da mit Laura und Ljoha etwa die berühmten sich anziehenden Gegensätze, von denen Kuosmanen weiß, dass sie auch Gegensätze bleiben müssen, um zueinander zu finden. Unvermittelte Gemeinsamkeiten haben hier deshalb keine Chance, weder die oberflächlichen noch die tief verankerten: Selbst wenn ein finnischer Gitarrenheini mit studentischem Look den Zug besteigt, bleibt Lauras Solidarität bei dem grummelnden Proletarier. Und wenn der neue Passagier über Ljoha sagt, dass es irgendwo eine Fabrik geben müsse, die solche Typen herstelle: Dann ist das natürlich vor allem überheblich, aber auch so herrlich ignorant gegenüber der eigenen Herkunft aus der Produktionsstätte für alles in akustische Indie-Coverversionen verwandelnde Musikertypen.

„Kennt man die Vergangenheit, versteht man die Gegenwart besser“ ist noch so ein anderer Spruch, der nach ziemlich viel klingt, meist aber wenig meint. Laura stimmt ihm in Moskau pflichtschuldig zu, als er aus dem Mund irgendeines intellektuellen Gasts von Irina kommt, und sie wiederholt ihn später ganz mechanisch bei der Frage, warum sie sich auf diese Reise begeben hat. Natürlich würde jenen Worten wohl keiner ernsthaft widersprechen. Aber die blinde Selbstverständlichkeit, mit der Laura und Irinas Partygesellschaft sie sich aneignen, stellt Abteil Nr. 6 eben trotzdem infrage: Was heißt das Verstehen von Geschichte, wenn die Intellektuellen historische Worte nur als lustiges Zitate-Ratespiel abwickeln, man an der Uni auch nur für den schicken Habitus studieren und ein Arbeiter wie Ljoha sich nicht einmal das Wort „Petroglyphen“ merken kann? Bilder von den Bahnstationen, die vom Zug innerhalb von Sekunden in der Ferne verschwinden, künden davon: Die Vergangenheit bleibt ständig auf der Strecke, und man schläft, speist, unterhält sich in diesem post-sowjetischen Russland in einer losen Aneinanderreihung von ‚Hier-und-Jetzts‘.

Wärmende Reibung am Anderen

Der Ausweg aber muss auf sich warten lassen, auch da macht es sich Abteil Nr. 6 nicht einfach: Die eigene Historie bleibt verschneit und die Gegenwart weiterhin unverstanden, aber die Reibung an den Ecken und Kanten eines Anderen erzeugt genug Wärme, um die Hoffnung auf ein Ende des Winters am Leben zu erhalten. Wie passend, dass auch beim Ausklang von Abteil Nr. 6 die Dinge nicht direkt miteinander harmonieren, eher aneinandergeraten, nur produktiv sein können, weil Kuosmanen auf ganzer Filmlänge Vermittlungsarbeit geleistet hat. Ein Abschied manifestiert die Nähe da nur umso stärker, und auf einem Zettel steht das vielleicht schönste „Fick dich“ der Filmgeschichte geschrieben. Es ist gewiss keine direkte Utopie, die dieser Film für uns bereithält, vielleicht aber die Bedingung ihrer Möglichkeit.

Der Film steht bis 26.02.2024 in der Arte-Mediathek.

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