Die Sandburg – Kritik

VoD: Die Zeit sprengen, um das Unumkehrbare zu erzählen. Zur Pascale-Ferran-Retrospektive stellen wir ihren Debütfilm Die Sandburg (1994) vor, der unsere Vorstellungen vom Lauf der Dinge untergräbt.

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Es beginnt mit einer wunderbaren Seitfahrt. Die Kamera gleitet an der Küste entlang, das Bild fast ebenmäßig in Himmel, Meer und Sand gedrittelt. Man buddelt, man sonnt sich, man schüttelt den Sand aus der Kleidung, aber die Kamera braust geschmeidig vorbei, unwillig, ihre Aufmerksamkeit auf eines der vielen Details zu lenken, als überfliege sie den Strand auf der Suche nach etwas. Dann drängt sich eine Sandburg ins Bild, und die Kamera hält. Aus den unzähligen Geschichten, die sich an diesem Strand in der Bretagne verdichten, hat sie scheinbar nun eine gewählt. Die aufwändig gestaltete Sandburg mit ihren spitzen Dächern, ihren Zinnen und ihren Treppen öffnet die Tür in die Existenzen der drei Menschen, deren Geschichte Die Sandburg (Coming to Terms with the Dead) erzählt, eine nach dem anderen, in diesem Triptychon, dessen drei Kapitel jeweils den Namen eines Protagonisten tragen.

Die Beständigkeit der Unbeständigkeit

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Gleich in der Anfangssequenz wird die Sandburg noch zerstört. Man könnte glauben, dass dem Film damit der Aufhänger abhandenkommt, dass sich die von der Sandburg aus erzählte Geschichte nun verselbstständigt, ohne den Bezug auf ihren Ursprung auskommt, aber die nächste Sequenz, einen Tag später, führt wieder zur Sandburg, allerdings weder zu ganz derselben noch zu einer ganz anderen; denn unermüdlich baut Vincent (Didier Sandre) das Werk aufs Neue, mit der Geduld und der Genauigkeit des Vortags. Dreimal, aus drei verschiedenen Perspektiven, kehrt der Film zu der Szene zurück und nimmt sie zum Ursprung einer anderen Geschichte. So baut Die Sandburg in seinem Grundprinzip das Spannungsverhältnis zwischen dem Beständigen und dem Vergänglichen ein: Der Film findet sein Zentrum in einem unbeständigen Bau, der beständig erneuert wird und auf den beständig Bezug genommen wird; er findet sein Zentrum in einer Szene, deren beständige Wiederholung sie uns erst als vielfältig wahrnehmen lässt.

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In dieser Szene, das verstehen wir aber erst später, beobachten drei Menschen Vincent beim Wiederaufbau der Sandburg. Als wir sie zum ersten Mal sehen, gucken wir aus größerer Entfernung mit den Augen eines neunjährigen Jungen auf die Burg im Aufbau. Wir blicken mit ihm durch das Fernglas, zwängen unseren Blick mit ihm durch die Öffnung seines unpraktischen Verstecks. Jumbo (Guillaume Charras) hatte dem zufällig am Strand getroffenen Vincent mit großem Ernst versprochen, seine Sandburg zu bewachen, konnte die Zerstörung aber nicht verhindern. Von der Sandburg aus führt uns Jumbo in sein Leben ein, das Leben eines von der Existenz beunruhigten Jungen, der fragt, warum die tote Katze so aussieht, als schliefe sie, der tote Frosch aber wie eine plattgefahrene Coladose; warum die Katze im Tod noch Katze ist und der Frosch nicht. Weil Jumbo zu komplizierte und traurige Fragen stellt, wurde er von einem Arzt für „instabil“ erklärt. Die Kamera ist oft auf Kinderhöhe, man hat den Eindruck – wie in der anfänglichen Spähszene –, mit Jumbos Augen zu sehen. Aber der Film bricht peu à peu mit dieser Erwartung. Langsam zeichnet sich ab, dass wir nicht mit Jumbo gucken, sondern dass der Junge uns auf etwas gucken lässt, dass er uns eine Geschichte erzählt; und dass diese Geschichte sein Weg ist, mit dem Tod seines Spielkameraden Patrick klarzukommen.

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Beim zweiten Wiederaufbau der Sandburg richtet die Kamera ihre Aufmerksamkeit auf den erwachsenen François (Charles Berling), der das Werk von einer Bank aus beobachtet. Und wieder, genau zur Mittagsstunde, führt uns der Film von hier zum einschneidenden Ereignis im Leben des Beobachters, zu einem anderen Klarkommen. François hat als Kind seine Schwester verloren; seitdem bildet er sich ein, sein Bruder habe ihn verrückt machen wollen. Zaza (Catherine Ferran), François’ Schwester, gehört schließlich der dritte Blick im Gefüge; mit ihrer Paranoia gleitet der Film in die Fantastik.

Wider das Nimmermehr

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Die Logik des Todes ist die des Nimmermehr. Die Zeit rinnt wie Sand durch die Finger, schreitet unaufhaltsam voran, und was einmal war, wird nie wieder. Die Sandburg bedient sich filmischer Mittel, die gegen diese Logik verstoßen, womit der Film selbst zu einem der titelgebenden Arrangements wird (die Übersetzung des Originaltitels lautet: „Kleine Arrangements mit den Toten“). Denn Die Sandburg widersetzt sich sowohl der Idee von Zeit als kontinuierlichem, vorwärts gerichtetem Strom als auch der Möglichkeit, Sequenzen in diesen Strom einzuordnen. Der Film erzählt hauptsächlich in Rückblenden, die weder angekündigt noch in Bezug aufeinander verortet werden, sodass die zeitliche Abfolge der Ereignisse bis zum Schluss nicht vollends rekonstruiert werden kann. Dabei wird selbst die Einteilung in Rückblende und Augenblick, ab dem zurückgeblendet wird, aufgeweicht. Rückblenden haben eigene Rückblenden, der zentrale Bezugspunkt schwankt.

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Pascale Ferran dreht die Zeit nicht nur zurück, sondern sie dreht sie gleich mehrmals zurück; widersetzt sich also nicht nur der Vorwärtsgerichtetheit von Zeit, sondern auch der unabwendbaren Einmaligkeit eines jeden Zeitpunktes. So wie die Sandburg wieder aufgebaut werden kann, in Form und Gestalt identisch, aber im Wesen nicht, findet dieselbe Szene mehrmals statt, mit winzigen Abwandlungen, die Verwirrung und ein wenig Unbehagen schaffen: Ist es nur der Perspektivwechsel, oder ist diesmal etwas anders? Man kann es nicht sagen. Die Sandburg untergräbt sehr klug das, was wir zunächst für Objektivität gehalten haben, ertappt uns dabei, das bislang Gesehene für den einzig möglichen Lauf der Dinge gehalten zu haben. Der Film zerkrümelt in subjektive Perspektiven, und am Ende müssen wir selbst entscheiden, wem wir glauben und ob überhaupt jemandem zu glauben ist.

Den Film kann man kostenlos in der Mediathek von TV5Monde streamen.

Ebenfalls sehr empfehlenswert in der Pascale-Ferran-Retrospektive sind
Lady Chatterley und Bird People

Das gesamte Programm der Reihe gibt es hier

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