Cobain – Kritik

Die Geburt als Beginn eines lebenslangen Abhängigkeitsverhältnisses. Mit einem Fluss an Sinneseindrücken erzählt Nanouk Leopold von einem 15jährigen, der sich vom Phantasma einer intakten Familie nicht lösen kann.

Bevor Mia (Naomi Velissariou) das erste Mal zu sehen ist, wirft sie schon ihren Schatten über den Film. Verzweifelt sucht sie ihr 15-jähriger Sohn Cobain (Bas Keizer) in den Straßen von Rotterdam. Als er es, offensichtlich nicht zum ersten Mal, in einer Herberge für Junkies versucht, bekommt er am Empfang lediglich einen süffisanten Kommentar und ein mitleidiges Lächeln. Und wenn die Mutter dann endlich auftritt, wissen wir zwar schon, dass sie ein hoffnungsloser Fall ist, aber es ist dann doch ein ziemlich erschütternder Anblick, wie sie sich hochschwanger im Park betrinkt, auf allen vieren neben einen Baum kotzt und anschließend den sauren Geschmack mit einem weiteren Schluck aus der Bierdose runterspült. Mia hat die Kontrolle über ihr Leben verloren, aber eine gewisse Macht besitzt sie dennoch: Sie kann sich noch so unmöglich aufführen, ihren Sohn noch so oft zurückweisen, am Ende reicht ein reumütiges Lächeln, und der Junge läuft ihr wieder hinterher.

Ein Fluss an Sinneseindrücken

Dem Protagonisten in Nanouk Leopolds neuem Film steht noch kindliche Unsicherheit ins Gesicht geschrieben, aber zugleich flackert es für sein Alter in seinen Augen unüblich entschlossen. Mit seinem hochgebundenen Zopf, dem bis oben hin zugeknöpften Polohemd und der rot leuchtenden Harrington-Jacke strahlt er einen unerschütterlichen proletarischen Stolz aus; obwohl oder gerade, weil er von niemandem gewollt ist. Wie sich Leopold auf ungeschönte Weise den prekären Lebensbedingungen ihrer Figuren widmet, scheint zunächst einem sozialrealistischen Programm zu folgen. Aber Cobains Blick auf die Welt ist vor allem ein impressionistischer. Die Verlorenheit des Titelhelden vermittelt sich nicht nur durch eine Demütigung nach der anderen, sondern auch über einen Fluss an Sinneseindrücken. Wenn sich die Kamera (Frank van den Eeden) ihm nähert, isoliert ihn der unscharfe Hintergrund von seinem Umfeld. Und das immer lauter werdende Flirren und Summen von Harry de Wits Klangflächen legt sich wie eine Käseglocke über ihn.

Während die niederländische Regisseurin in früheren Filmen wie Guernsey (2005) oder Brownian Movement (2010) vor allem mit der Offenheit ihrer Erzählung und der Undurchsichtigkeit ihrer Figuren spielte, wirkt Cobain sehr viel klassischer. Er macht keinen Hehl aus dem Ziel seines Protagonisten, ohne ihn dabei toterklären zu müssen. Der zentrale Konflikt des Films ist erst einmal sehr einfach: Cobain hat Sehnsucht nach einer normalen Familie – und Mia ist unfähig, ihm diesen Wunsch zu erfüllen. Es wirkt, als hätte der Junge schon eine recht klare Vorstellung davon, in welchen Strukturen er leben möchte. Allerdings lässt sich dieser Wunsch nur unzureichend verwirklichen. Beim ehemaligen Zuhälter seiner Mutter, bei dem er zwischenzeitlich unterkommt, findet Cobain zwar eine Ersatzfamilie, aber keine Liebe. Wenn er dort eine Hure für Sex bezahlt und danach vorsichtig „War ich diesmal besser?“ fragt, scheint es, als probe er schon mal für seine erste Beziehung. Cobains Alltag wirkt wie die Generalprobe für ein späteres, möglichst normales Leben, das wie ein unerreichbares Ideal über dem Film schwebt.

Eine zweite Geburt

Später versucht der Junge dieses Ideal mit Gewalt zu erreichen. Er sperrt seine Mutter in eine Waldhütte ein, setzt sie auf Entzug und tut alles Menschenmögliche dafür, dass Mia ein gesundes Kind zur Welt bringt. Und plötzlich entwickelt sich zwischen Tränen, Schweiß und Kot wieder eine verlorene Intimität zwischen den beiden – die jedoch wie alles Glück in Cobain flüchtig bleiben muss. Während die Vorstellung einer intakten Familie im Film eine uneinlösbare Utopie ist, gleicht die Verwandtschaft einem Fluch. Schon im abstrakten, von blutigen Schlieren durchzogenen Vorspann erweist sich die Geburt als morbider Beginn eines lebenslangen Abhängigkeitsverhältnisses. Es braucht dementsprechend auch ein zweites Trauma, um Cobain endlich in die Freiheit zu entlassen. Die Kamera schwenkt darauf in den Himmel, wo das Sonnenlicht durch die Blätter eines Baums schimmert. Es ist wie eine zweite Geburt, aber diesmal wird auch die Nabelschnur durchtrennt.


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