Class Enemy – Kritik
Rok Biček macht aus einer slowenischen Oberschule eine filmische Welt, die wir nicht erleben, sondern betreten müssen.

Es ist schwierig, über diesen Film zu schreiben, weil man eigentlich nicht viel preisgeben möchte von ihm. Würde sich dieses Unbehagen nur auf bestimmte Plotpoints beziehen, wäre das kein Problem, darauf ließe sich ja recht einfach verzichten zugunsten der Beschreibung von Stimmungen und Eindrücken, zugunsten einer Haltung zum Film. Doch was man hier nicht preisgeben möchte, das sind weniger die beschreibbaren Entwicklungen innerhalb der Erzählung als eben die Haltungen, Stimmungen, Eindrücke im Angesicht dieser Entwicklungen. Weil dieser Film immer wieder behutsam neu perspektiviert wird, verändern sich diese Haltungen, Stimmungen, Eindrücke stetig. Das Aufregende an Class Enemy ist nicht die Bewegung des Films, sondern die von ihm motivierten Bewegungen in ihm drin. Diese Bewegungen zu beschreiben, ohne sie im selben Moment stillzustellen – weil sie gerade nicht die Summe ihrer Wegmarken sind –, ohne damit andere mögliche Bewegungen zu erschweren – weil sie eben mit subjektiven Haltungen, Stimmungen zu tun haben –, das macht es so schwierig, über diesen Film zu schreiben.
Figuren in der Gruppe zeichnen

Beginnen wir also weder mit narrativen Entwicklungen noch mit sich entwickelnden Haltungen. Beginnen wir mit dem Schauplatz, einer slowenischen Oberschule. Denn noch vor jeder Bewegung, vor jeder Linie, überzeugt Class Enemy mit der Konstruktion jenes Raumes, durch den sich die Linien dann ziehen können, ob diese nun vom Film ausgehen – Ereignisse, Figuren, Emotionen – oder von uns – Affekte, Haltungen, Eindrücke. Verblüffend, wie rasch man in diese Institution eingetaucht ist, und das völlig ohne Fixpunkte. Das Setting wird nicht etabliert, sondern ist immer schon da, kein Schüler nimmt uns an die Hand, um es uns zu zeigen. Rok Biček gelingt es vielmehr, uns durch sehr präzise ausgewählte Szenen in eine Klassenstruktur einzubinden, im doppelten Sinne: in die Schulklasse als Mikrokosmos, in die Schule als hierarchisch organisierten Raum. Dass wir schon bald „drin“ sind in der in bitterkalten Farben porträtierten Institution, hat wenig mit Naturalismus zu tun. Die Charaktere entspringen der herkömmlichen Typisierung von Schulpersönlichkeiten – der Streber, die esoterische Schulpsychologin, das verschlossene Mädchen – und wirken dennoch fast unheimlich real. Vielleicht weil sie nicht in erster Linie als Personen, sondern als Teile eines Ganzen in den Blick genommen werden. Oft sind es jene Filme, die sich eher auf Gruppendynamiken denn auf Individualpsychologien konzentrieren, in denen ganz beiläufig die genauesten Figurenzeichnungen entstehen.
Ein Nazi als Deutschlehrer?

Thomas ist eine Ausnahme, ihn betrachtet der Film nicht nur aus den Augenwinkeln. Der neue Klassen- und Deutschlehrer ist das Gegenteil der muttihaften Lehrerin, die er fortan vertreten soll. Er fordert Disziplin ein, benotet unnachgiebig streng, scheint unfähig zu Empathie und Humor. Igor Samobor ist furchteinflößend in dieser Rolle, und das nicht mal nur wegen seiner Strenge, sondern vor allem wegen seiner apathischen Undurchdringlichkeit, seiner vollkommenen Emotionslosigkeit im Angesicht jugendlicher Leidenschaft. Im Machtkampf, der zwischen Schülern und Lehrer bald entbrennen wird, spielt auch die Sprache eine wichtige Rolle: Die Schüler fallen immer wieder ins Tschechische, der Lehrer antwortet unnachgiebig auf Deutsch. Einen Nazi werden sie ihn bald nennen. Dass uns auch dieser Machtkampf so nahe geht, hat vielleicht auch mit der ungewohnten Vorbereitung des Films zu tun: Biček hat Schüler (hauptsächlich Laien) und Lehrer nicht wochenlang proben lassen, sondern ein Kennenlernen vor dem ersten Dreh bewusst verhindert.
Ein Porträt in ständigen Schwingungen

Die Schule und der neue Lehrer. Was noch fehlt, ist das Ereignis. Es kommt nach nur kurzer Zeit, aber trifft uns deshalb nicht minder hart: Die schüchterne Sabina hat sich umgebracht. Das darf man verraten, weil der Film dieses Ereignis weniger erzählt, als es in seine Versuchsanordnung einzufügen. Und darin ist es weniger narrative Funktion als gefährlicher Beschleuniger der Bewegungen. Was es in Gang setzt, ist keine lineare Erzählung, sondern eine ständige Konfrontation der filmischen Elemente: die Schule, der neue Lehrer, die Klasse, der für alle unfassbare Selbstmord. Für diese Konfrontation hat Biček mit Class Enemy einen Körper geschaffen, der nun auch zu unserem wird. Fortan sind wir mittendrin, werfen unsere Haltungen und Eindrücke in den Raum, revidieren uns, staunen und leiden. Die Schule wird nicht bloß präzise porträtiert – als Ort der Erziehung, der Machtausübung, der festen Rollen –, dieses Porträt wird zudem ständig in Schwingungen versetzt, die Schule als Ort der Beziehungen, der Machtkämpfe, als labiler Container hoch dynamischer Verhältnisse. Und während sich diese Verhältnisse immer wieder verschieben, verändern wir unser eigenes Verhältnis zu diesen Verhältnissen ständig mit.

Zweifel kommen erst rückblickend auf. Ich versuche, meine Haltung zu rekapitulieren, die Wegmarken rückwärts abzuschreiten, die eigene Bewegung durch Bičeks Raum nachzuvollziehen. Manchmal werde ich dabei auf mich selbst zurückgeworfen, manchmal auf den Film. Hat mich Class Enemy wirklich nur einblicken lassen in seinen Raum oder hat er meinen Blick nicht doch geleitet? Hat er so bewusst undeutlich erzählt, um mich etwas zu fragen, oder doch, um mir etwas zu zeigen? Hat er seinen Blick bewusst, aber gleichmäßig unscharf werden lassen, oder hatte er die ganze Zeit den Finger am Fokus? Gibt es hier wirklich unzählige mögliche Bewegungen oder doch die eine privilegierte? Waren meine Linien frei, können sie das überhaupt sein? Vielleicht will ich diesen Film kein zweites Mal sehen, vielleicht will ich diese Fragen gar nicht beantworten.
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Kommentare
Ferdo Pungartnik
Die Schuler sprechen slowenich nicht theschisch weil das slowenisches und nicht tsechiches film ist. Gute kritik, ein Film das dich in das Geschen zieht ein und nicht wieder lasst.
Theo Rheinbach
Sehr geehrter Herr Kadritzke,
vielen Dank für Ihre Filmkritik, welche mich sehr neugierig auf diesen offenbar wichtigen Film machte. Der Vollständigkeit halber ein Verweis auf eine äußerst glaubwürdige Lobpreisung:
LUX PRIZE 2014: Slavoj Zizek on Class Enemy
https://www.youtube.com/watch?v=gw_2LWULIdk
Nun muß ich nur noch den Film sehen.
2 Kommentare