Chi-Raq – Kritik

Hip-Hop-Musical in antik: Spike Lee verschiebt die Chicagoer Gang Wars zu Gender Wars und verschränkt dabei Pop und Politik.

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Die Opening Credits müssen sterben, wenn wir leben wollen. Kein beruhigendes Reinkommen, von wegen someone presents someone’s production of another one’s film. Sondern der laute Titelsong „Pray 4 My City“ von Nick Cannon, mit bunt eingeblendeten Lyrics, das Wichtigste in big letters: Fuck. Bastards. Jail. Death. Everyday. Zum Refrain eine aus Schusswaffen gebaute Silhouette der USA (inkl. Hawaii und Alaska!). Pop und Wut greifen sich das Kino. Nach einem kurzen Newsreel zur Erklärung der Bezeichnung Chi-Raq – der Body Count der Gang Wars in der South Side der Stadt kann sich locker mit den US-amerikanischen Toten im Irak und in Afghanistan messen – landen wir über eine längere Spike-Lee-Kranfahrt in einem Hip-Hop-Club, in dem das Publikum ziemlich heiß den nächsten Act erwartet, bis Samuel L. Jackson mit pinkem Hut es per freeze frame erstarren lässt. Er ist hier kein Radio-DJ, wie in Do the Right Thing (1989), sondern der Wanderdichter Dolmedes, denn Chi-Raq ist zwar ein Hip-Hop-Musical und zugleich fast so etwas wie eine Mockumentary, aber eben auch eine Adaption der altgriechischen Komödie Lysistrata von Aristophanes. Und in der überzeugt eine Athenerin andere Frauen davon, ihren sich bekriegenden Ehemännern den Zugang zu ihren Körpern zu verweigern, um damit Frieden zu erzwingen.

No Peace, No Pussy!

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Spike Lee schnappt sich also aus der antiken Literatur eine der konsequentesten Artikulationen der „Waffen einer Frau“ und wirft sie in den fiktiven Gang-Konflikt zwischen „Spartans“ und „Trojans“, den er als tatsächlichen Krieg versteht. Aus dieser Konstellation heraus sieht er in die Zukunft, imaginiert die Entstehung einer militanten No-more-deaths-Bewegung. Erster Schritt des consciousness-raising der Lysistrata des 21. Jahrhunderts (Teyonah Parris) ist der Tod eines achtjährigen Kindes, das in die Schusslinie gerät, als sich ein paar Trojaner an Lysistratas Lover Demetrius (Nick Cannon, Künstlername: Chi-Raq) rächen wollen; zweiter Schritt ist die verzweifelte Anklage der gesamten community durch die Mutter des Kindes (Jennifer Hudson) und der dritte schließlich ein Hinweis der belesenen Nachbarin Helen (Angela Bassett) auf die liberianische Friedensaktivistin Leymah Gbowee, die von Lysistrata sogleich gegoogelt wird. Dann geht es in den Sex-Streik, und Lysistrata hat nicht viel Mühe, Trojanerinnen und Spartanerinnen unter einen Hashtag zu bringen: #nopeacenopussy ist geboren.

Whistlin’ Dick muss sterben

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Kompromisslose Satire, absurde Farce, Mockumentary, Musical, wie und was auch immer: Jedenfalls ist der gesamte Dialog gereimt. „We retain his verse to show our love for the universe“, wie Dolmedes das ausdrückt. Chi-Raq ist ein wild wuchernder, chaotischer Film, postmoderne Beliebigkeit im besten Sinne: Zitation, Aneignung, De- und Rekonstruktion einer Pop gewordenen Black-Resistance-Kultur, die auf diesen Film nur gewartet zu haben scheint. Fiktive YouTube-Clips zeigen bald Nachahmer der No-Peace-No-Pussy-Bewegung von Brasilien bis Indien, von Japan bis Dänemark. Den narrativen Hauptteil von Chi-Raq bildet dann die recht problemlose Besetzung der lokalen Waffenkammer durch die schwarzen Frauen. Wenn dabei ein rassistischer Dixie mit der Südstaaten-Flagge gefesselt und auf ein Bürgerkriegs-Kanonenrohr mit dem Namen Whistlin’ Dick gesetzt wird, dann ist Chi-Raq endgültig zu Kubrick’scher Satire-Form aufgelaufen. Die pikierte weiße Obrigkeit appelliert bald an die Männer aus der hood, diesen inakzeptablen Zustand zu beenden, aber die haben ohnehin längst genug von der Abstinenz und machen sich ans Werk: „to regain the means of reproduction“. Knapper und präziser als in dieser Formulierung kann man eine Kritik am Austausch von Politik durch Gangster-Sexismus wohl kaum artikulieren.

Reality Check für zwischendurch

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Diese Kritik ist freilich selbst nicht unproblematisch, nicht nur weil sie die Ursache der Kriegszustände in pathologischen Geschlechterverhältnissen der black community zu verorten scheint, sondern auch, weil sie aus der gemütlichen Position des New Yorker Intellektuellen formuliert ist, der über Gangsta-Goldkettchen-Fantasien nur den Kopf schütteln, über der realen Gewalt nur verzweifeln kann. Im distanzierten Modus der Satire jedenfalls lassen sich die von Lee in die Pflicht Genommenen wohl kaum ansprechen. Andererseits reduziert Lee die gang wars nicht auf Testosteron: Bei der Trauerfeier für das getötete Kind darf John Cusack als geschätzter Pfarrer der Gemeinde die strukturellen Hintergründe zusammenfassen, die Politik, Polizei und NRA anprangern. Er redet sich in Rage (seine Predigt kommt ohne Reime aus), er nennt Arbeitslosenzahlen, bezeichnet die Masseninhaftierung als neue Form der Segregation, die durch Knastprivatisierung auch noch Profite abwirft. Doch nicht nur durch diesen in seiner Unmittelbarkeit äußerst gelungenen reality check strömt die Politik in diesen Film: auch durch die für Lee-Verhältnisse naturalistischen Szenen mit „Veteranen“ der Gang Wars, durch die Plakate von tatsächlichen Opfern, die Mütter auf Protestmärschen hochhalten, schließlich durch die mitreißend spielende Jennifer Hudson, die selbst aus Chicago kommt und drei Familienmitglieder verloren hat.

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Diese Spannung zwischen gnadenloser Satire und filmischem Pamphlet verleiht Chi-Raq seine Kraft, und man sollte deshalb nicht den Fehler machen, dem Film seine diskutablen Tendenzen vorzuwerfen, sie lieber tatsächlich diskutieren. Als Analyse US-amerikanischer race und gender relations, so viel dürfte klar sein, ist der Film nur bedingt zu gebrauchen. Als wütende Intervention mit den Mitteln der Fiktion aber ist er ein leidenschaftliches Stück politisches Kino, dringlicher und relevanter als jedes der professionellen Betroffenheitsdramen aus dem Wettbewerb der Berlinale, in dem dieser Film (wie passend) außer Konkurrenz läuft. Chi-Raq fordert heraus, sich zu ihm zu verhalten, nicht bloß in der nachträglichen Reflexion, sondern ganz konkret, in jedem Moment.

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