Chantal im Märchenland – Kritik

Bora Dagtekin macht die Ikone aus den Fack ju Göhte-Filmen zur Hauptfigur. Dabei ist Chantal im Märchenland mehr Fiebertraum als soziales Projekt: Botschaften sind vorhanden, aber im Zentrum steht der Spaß an Chaos und Vulgarität.

Als Giselle im Stil von Disneys Schneewittchen nach den Tieren des Waldes ruft, die ihr bei der Reinigung einer Wohnung helfen sollten, erscheinen keine Streifenhörnchen, Hasen und Meisen, sondern Ratten, Tauben und Schaben. Die Prinzessin befindet sich eben nicht mehr in ihrer Märchenwelt, sondern in New York. Die Culture-Clash-Komödie Verwünscht (Enchanted, 2007) findet ihren Spaß so vor allem darin, dass die Fiktion mit der Realität abgeglichen wird. Ein graziles, unwirkliches Wesen trifft auf die ruppigen Bürger der Millionenmetropole und die moderne Welt. Chantal im Märchenland stellt dies nun auf den Kopf und gleicht die Realität mit der Fiktion ab. Eine unbedarfte Fee bezeichnet sich bald grinsend als „Fotze“, und eine Prinzessin tituliert ihren Verlobten liebevoll als „Motherfucker“, ohne dass sie wüssten, was diese in ihrer Welt neuen, schillernden Worte überhaupt bedeuten. Alles unter dem Einfluss einer jungen Frau aus Berlin, der Ratte aus der Realität, die es jetzt mit ätherischen Wesen zu tun bekommt, die in einer unschuldigen Traumwelt leben.

Schreckgespenst moderner Unbelehrbarkeit

Chantal (Jella Haase) kommt aus der 10b der Goethe-Gesamtschule. Also der Klasse, die in Fack Ju Göhte (2013) und seinen Fortsetzungen das Schreckgespenst moderner Unbelehrbarkeit darstellte und die doch immer wieder zur Ansammlung von Musterschülern belehrt wurde. Chantal war eines der Alphatiere der Klasse, die es pädagogisch zu gewinnen galt. Sie war und ist dabei eine Mischung aus Erkan-&-Stefan-Slang, kindlichem Egoismus und einer Weltwahrnehmung, die alles ignoriert, was jenseits von Handy und Social Media geschieht. Darin ist sie zugleich einfach zu erfassendes Klischee, über das gelacht werden kann, aber auch eine charismatische Persönlichkeit, mit der sich mitfühlen lässt. Kurz: eine Ikone. Mit jeder Fortsetzung nahm sie sich mehr Platz, um nun Hauptfigur zu sein.

Entgegen allen Beteuerungen der vorangegangenen Filme ist Chantal auch Jahre nach dem Schulabschluss nicht vorbildlich im Berufsleben angelangt. Während BFF Zeynep (Gizem Emre) um einen Ausbildungsplatz kämpft, will Chantal nur im Jugendzentrum abhängen und Influencerin sein, die der Welt zeigt, wie die besten Entenlippen für das perfekte Selfie gemacht werden. Durch einen Zauberspiegel wird sie aber ins Märchenland gezogen, wo sie sich mit toxischen Machokönigen, Jugendwahn, Hexenzirkeln und Drachen auseinandersetzen muss. Beziehungsweise: Ihr wird durch Zufall/Zauberhand/das Drehbuch Verantwortung aufgezwungen, durch die sie sich mit ihren Träumen, Zielen und verinnerlichten Ideologien auseinandersetzen muss.

Besser geschrieben als inszeniert

Auf den ersten Blick ist Chantal im Märchenland eine eher ungewöhnliche Fortsetzung der scheinbar ewig gleichen Reihe über Schüler und Lehrer. Und doch gleicht sich wieder alles. Statt dem bildungsfernen, autoritätsfeindlichen Gangster Zeki Müller (Elyas M’Barek), der durch Verantwortung und Liebe erkennt, dass er zum Lehrer geboren ist, landet nun eben eine bildungs- und realitätsferne Frau, die mit Mitte zwanzig noch Teenager ist, in ihrer persönlichen Hölle, um an dieser zu wachsen.

Wieder einmal ist das alles besser geschrieben als inszeniert. Der schon im Trailer verbratene Gag, wonach das Märchenland für Chantal und Zeynep toxisch sei, sie sich also nicht auf Instagram befinden, sondern auf Twitter, wird so sensationell, wie er ist, gnadenlos von Timing und Schnitt vor die Wand gefahren. Weshalb sich wieder die Frage stellt, wie viel besser Bora Dagtekins Filme sein könnten, würden seine Ideen etwas pointierter in Szene gesetzt.

Auch die hehre Botschaft darf abermals nicht fehlen. Wo die FJG-Filme vermitteln wollten, dass Schüler vielleicht klare Ansagen und Verständnis brauchen, damit auch sie zu anständigen Bürgern unserer Gesellschaft werden, da muss Chantal gegen den Sexismus in den althergebrachten Geschichten kämpfen. Sie wird zur Vorkämpferin, die ihr Leben in die Hand nimmt, weil miese, ignorante Kerle ihr Leben auf Heim und Kind beschränken, wenn sie sich nicht wehrt. Zumindest wird diese Botschaft nicht in die trostlose Optik gezwängt, mit der die Öffentlich-Rechtlichen seit Jahren alte Märchen „entstauben“ – auch wenn es manchmal einem solchen nicht unähnlich ist. Allein die Farbskala wird quasi durch Chantals Geschmacksknospen kalibriert. Das Ergebnis ist mehr Fiebertraum als soziales Projekt.

Ode an das Imperfekte

Und da sich eben alles gleicht, bietet Chantal im Märchenland Dagtekin wieder eine Spielwiese. Eine, die ihm ein vierter Fack Ju Göhte-Film nie und nimmer geboten hätte. Alles muss sich ändern, damit es gleich bleiben kann, scheint das Motto zu sein. Botschaften und charakterliche Entwicklungen sind zwar vorhanden, aber das Zentrum der Filme ist ihr Hang zu Chaos und Vulgarität. Nicht weil beides pädagogisch ausgemerzt werden soll, sondern weil sich darin ausprobiert werden kann – weil das den Spaß ausmacht. Wieder ist der Film also zu lang, wieder ein bisschen neben der Spur, was aber allemal besser und sympathischer ist als ein strenger Besserwisser. Die hingebungsvolle, leichte Ode an das Imperfekte kann Dagtekin eben.

Das Beste ist aber Jella Haase – gerade weil sie gnadenlos daran scheitert, zwei Stunden lang Chantal zu sein. Elyas M’Barek hatte es schließlich auch nie verstanden, einen skrupellosen Gangster darzustellen. Von Beginn weg schien bei ihm das Ziel durch, das er alsbald erreichen würde: eine um Kraftausdrücken gepimpte Version von Roy Black, einen charmanten Versteher für jedermann. Jella Haase spielt Chantal zwar mehr als überzeugend, aber mit einer verantwortungslosen, unselbstständigen, weltfremden Egomanin ließe sich keine Heldengeschichte erzählen. Weshalb ihre Chantal immer wieder unbemerkt wie eine Maske herunterrutscht, unter der eine verletzliche, taffe, gescheite Frau wartet. Ihr Chantalsein nutzt sie möglicherweise nur als Werkzeug, um sich der Welt zu stellen. Vielleicht ist sie auch nicht ganz so ahnungslos wie die Fee, die sich stolz „Fotze“ nennt. In diesen Brüchen zwischen dem Klischee und der Person schafft es diese Fortsetzung eben auch, anrührend zu sein.

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