Die Flügel der Menschen – Kritik

Der Projektor im Gebetssaal: Zwischen Mythologie und Realismus siedelt Aktan Arym Kubat seinen neuen Film Die Flügel der Menschen an, und bringt gegen den Einzug des Fundamentalismus in sein Land nicht zuletzt das Kino selbst in Stellung.

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Er wird von allen nur Zentaur genannt. Als Pferdedieb verurteilt, wird der Protagonist von Die Flügel der Menschen in einer Szene gezwungen, im zur Moschee umfunktionierten Kino, in dem er selbst einst als Vorführer arbeitete, an Gebeten teilzunehmen. Zentaur blickt nach links und rechts auf seine sich niederwerfenden Nachbarn. Einmal verneigt er sich mit, dann steht er auf, verlässt den Saal und geht nach oben in seine alte Kabine. Dort spannt er eine Filmrolle in den Projektor, und kurz darauf flimmert Der Rote Apfel (1975) des kirgisischen Regisseurs Tolomuš Okeev an der Wand des Gebetssaals. Darin verfolgen sich ein Mann und eine Frau spielerisch auf Pferden durch einen Wald. Sie lächeln sich zu, und Zentaur lacht mit ihnen. Es ist ein letzter kleiner Sieg des Kinos, der Pferde, der Bewegung, nicht über den Islam, sondern über die Moderne, die die Religion überhaupt erst in die abgelegenen Gebirgsregionen Kirgisistan gebracht hat – und damit nicht die Erleuchtung, sondern Regelhörigkeit, leere Rituale, Ausbeutung, Stasis.

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Abgesehen von diesem Kino, in dem alte Mythen ein letztes Mal aufleben dürfen (und in dem zum Überleben notwendige neue geschaffen werden), hat der Fortschritt in den Augen Zentaurs kaum Gutes gebracht. Früher seien alle Brüder gewesen, hätten alles geteilt, in Harmonie mit der Natur gelebt, sagt er zum Pferdebesitzer, der ihn fragt, warum er Pferde stiehlt. Heute wollten die Menschen Gott spielen, zerstörten dabei die Natur und den Lebensraum der Pferde, und hätten dabei noch die Dreistigkeit, diese als „die Flügel der Menschen“ zu bezeichnen. Regisseur Aktan Arym Kubat, der hier, wie schon in Der Dieb des Lichts (2011), die Hauptrolle selbst übernimmt, stellt Zentaur sehr eindringlich als einen Menschen dar, der an den Veränderungen zugrunde geht, weil er sich nicht mit ihnen abfinden will. Einen Sonderling, der mit einem nicht ganz unschuldigen Flirt mit einer Maksym-Verkäuferin das Wohlwollen der Dorfgemeinschaft zusätzlich strapaziert.

Unvereinbare Mythologie

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War der Vorgängerfilm noch eine sanfte und humorvolle politische Allegorie auf die jüngere Geschichte seines Landes, so spielt Centaur, wie der Film im Original heißt, auf einer eher mythologischen Ebene. Das kirgisische Volk stammt von Zentauren ab, ist der Protagonist überzeugt und kümmert sich (wie der Regisseur des Films) nicht darum, dass diese aus einem gänzlich anderen mythologischen Kontext stammen, fügt der sich hier doch nahtlos in den eigenen ein. Wenn sich Zentaur von seiner schlafenden Familie davonstiehlt, um das neuste Rennpferd eines reichen Pferdebesitzers für einen nächtlichen Ausritt zu entführen, ändert sich schlagartig der ganze Modus der Inszenierung, und die ruhigen, malerischen Alltagsbilder weichen einer wilden, bewegten, in Zeitlupe gehaltenen Einstellung, in der Zentaur ohne Sattel und mit hochgestreckten Armen von epischer Musik begleitet durch die nächtliche Steppenlandschaft galoppiert. Diese Momente, so kurz sie auch sind, stellen das Herzstück von Die Flügel der Menschen dar. Zugleich spiegelt sich in den beiden so unterschiedlichen Erzählmodi der Grundkonflikt des Films. Denn obwohl Zentaur die entführten Pferde jeweils am nächsten Tag unbeschadet wieder ihren Besitzern zukommen lässt, laufen diese kleinen auch formalen Ausflüge der längst kapitalistisch geprägten Dorfgemeinschaft zuwider, in der das Konzept des Teilens unter Brüdern schon lange in den Bereich der Mythologie verbannt ist und die „Flügel der Menschen“ nur mehr als Prestigeobjekt Rennpferd oder auf dem Teller eine Rolle spielen.

Affäre mit dem Kino

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Kubat reichert diesen Hauptkonflikt mit zahlreichen kleinen Handlungssträngen und einer Vielzahl von Nebenfiguren an, die sich allesamt über weitere kleine Widersprüche definieren. Die Kluft zwischen dieser Vielschichtigkeit und dem auf Eindeutigkeit zielenden mythologischen Modus wird schließlich mit Gewalt überwunden – dem einen Mittel, das sich mit beiden Welten gut verträgt. Die Flügel der Menschen ist Weltkino in relativ klassischem Sinne insofern, als er einerseits einer ganz konkreten Kultur, deren Mythen und politischer Situation entspringt, dessen Konfliktlinien gleichzeitig so universell sind, dass sie sich auf jeden kulturellen Kontext übertragen lassen. Im Gegensatz zu vielen Vertretern dieses Kinos geschieht dies hier aber weitgehend klischeefrei, da sämtliche Konflikte – ob zwischen Mythologie und Realismus oder zwischen Mensch und Natur – auf der Ebene einer einzelnen Figur und ohne Anspruch auf Allgemeingültigkeit sehr empathisch ausgetragen werden. Umso treffender, dass dem Kino hier selbst eine zentrale Rolle zugestanden wird – enthält es durch sein Potenzial, sowohl präzise Abbilder der Realität hervorzubringen als auch als moderne Mythenmaschine zu fungieren, all jene Widersprüche im Grunde bereits in sich. Wo passt es da also besser hin, muss man dem Zentaur beipflichten, als in einen Gebetssaal?

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