Caught by the TIdes – Kritik

Die Genüsse der Welt bleiben genießbar. Der chinesische Regisseur Jia Zhang-ke hat im eigenen Bildarchiv herumgewühlt und aus Vergessenem, Übersehenem und Abseitigem seinen neuen Film Caught By the Tides gemacht.

Zwei Menschen, die sich einmal geliebt haben, begegnen sich wieder. Was Caught by the Tides im Kern erzählt, ist simpel. Der Rest ist ein bisschen komplizierter. Und auf den Rest kommt es an. Denn Caught by the Tides ist ein Film, der zu einem beträchtlichen Teil aus Resten besteht: aus verworfenen, übriggebliebenen, wiederverwendeten Aufnahmen, die sich im digitalen Bildarchiv des chinesischen Filmemachers Jia Zhangke über ein knappes Vierteljahrhundert angesammelt haben (A Man with a Digital Camera, so der ziemlich programmatische Arbeitstitel). Dokumentarisches und Inszeniertes, Alltägliches und Monumentales, Überblendungskollagen in Slow Motion, munter wechselnde Bildformate – disparates Material also, begrifflich kaum einzuhegen. Und doch gelingt es der Wandaufschrift in einer Veranstaltungshalle zu Beginn des Films erstaunlich gut, die elementaren Kräfte, die in Caught by the Tides am Werk sind, beim Namen zu nennen: Musik, Gesang, Tanz, Tee – die Genüsse der Welt. Ein rhythmisches Motto für einen rhythmischen Film.

Filme, die von China handeln

Vielleicht lässt sich mithilfe der Genüsse der Welt am besten vom Verlust zu erzählen, von dem, was vom Zug des Fortschritts, der nur das Vorwärts kennt, hinten runterfällt. Von der Aufschrift schwenkt die Kamera zu einem abgewetzten Porträt des Vorsitzenden Mao. Jia Zhangke gehört zu der Sorte Filmemacher, der man gern bescheinigt, „Chronist eines Landes“ zu sein. Tatsächlich handeln viele Filme Jias mal beiläufiger, mal prononcierter von China, genauer: von den rasanten sozioökonomischen Transformations- und Modernisierungsprozessen, denen sich das Land seit der Jahrtausendwende ausgesetzt sieht. Wie schon in Mountains May Depart (2015) und Asche ist reines Weiß (2018) erstreckt sich das melodramatische Grundgerüst von Caught by the Tides über drei zeitlich abgesetzte Kapitel, die in ihrer epischen Anmutung nicht davor zurückschrecken, einer Chronistenpflicht nachzukommen.

Ein Symbol der dialektisch verschränkten Bewegung aus Modernisierung und Verdrängung, aus Fortschritt und Stillstand ist der Drei-Schluchten-Staudamm am Jangtsekiang in der Provinz Hubei, heute das leistungsfähigste Wasserkraftwerk der Erde. Eine ganze Region musste dem Wasser weichen, auf dass es gesamtwirtschaftlich vorangehen möge. Der melancholischen Grundstimmung in der totgeweihten Stadt Fengjie kurz vor Fertigstellung des Staudamms hat Jia mit Still Life (2006), Dong (2006) und Asche ist reines Weiß bereits mehrere Denkmäler gesetzt. In Caught by the Tides verabschiedet sich Jia erneut von diesem Ort, indem er die eindrucksvollen Aufnahmen von früheren Dreharbeiten wieder zur Hand nimmt. Sie bilden den narrativ einigermaßen kohärenten Mittelteil. Wie in Still Life sucht eine Frau im blassgelben Kurzarmhemd (Zhao Tao) ihren einstigen Liebhaber Guo Bin (Li Zhubin), der in windige Immobiliengeschäfte verwickelt ist, während um sie herum Familien umgesiedelt und Gebäude abgerissen werden.

Rotlicht-Rave zwischen Blumentapeten

Die Frau in blassgelb heißt Qiaoqiao und ist eine Art Fortführung von Zhao Taos gleichnamiger Figur aus Unknown Pleasures (2002), der dem ersten Teil von Caught by the Tides Bilder, Töne und Prämisse leiht. Qiaoqiao treibt sich als Tänzerin/Sängerin/Model in den Straßen und Clubs der Kohlestadt Datong herum, wo sie den Kleinkriminellen Guo Bin kennenlernt. Sie trägt Pulp Fiction-Perücke und knallige Outfits, aber keineswegs die Handlung. Eher zerfließt sie zwischen den virtuos montierten Impressionen des Aufbruchs, den markanten Gesichtern der Arbeiter und Zigarettenqualm aus allen Richtungen. Ungefähr so: Rotlicht-Rave zwischen Blumentapeten mit POV-Kamera, nach einigen anderen Tanzflächen (westlicher Bubblegum Pop und patriotische Hymnen stecken die musikalische Bandbreite ab) Auftritt Qiaoqiao, die Menschen beobachtet, wie sie jubelnd durch die Straßen ziehen, nachdem Peking den Zuschlag für die Olympischen Spiele 2008 erhalten hat.

Mit dem nächsten Schnitt tanzt Qiaoqiao staatstragend auf einem Promo-Event der lokalen Schnapsmarke zu Ehren ebenjener erfolgreichen Olympiabewerbung: This is our time to rise above / We know the chance is here to live forever / for all time. In der post-millennial elektrisierten Aufbruchsstimmung von Unknown Pleasures – China zog nicht nur Olympia an Land, sondern trat auch der WTO bei – gingen die ziellos in eine offene Zukunft driftenden Figuren mehr unter als auf. In Caught by the Tides stellt sich Ähnliches ein, die verdichtete Recyclingmontage mit ihren heterogenen Bildtypen und Klangschnipseln steigert die Lust an der Desorientierung sogar. Die Genüsse der Welt bleiben freilich genießbar, auch wenn man sie bereits zu kennen glaubt. Aber vielleicht schwingt bei der Wiederbegegnung ein melancholischer Unterton mit, der sich erst retrospektiv Gehör verschafft, wenn Zeit vergangen ist und mit ihr die Jugend.

Pandemisch regulierte Gegenwart

Insofern fungiert der dritte Teil des Films als Gegenstück zum ersten. Nach dem gleitenden Mittelteil am Jangtsekiang – die Übergänge zwischen den Teilen haben überhaupt etwas seltsam Gleitendes, Entgleitendes – geht es per Flugzeug zu TikTok-Stars nach Zhuhai und bald mit dem Zug zurück nach Datong, wo alles begann. Es ist Winter 2022 und die Zukunft nicht länger offen, sondern mit pandemisch regulierter Gegenwart geschlagen: Masken, QR-Codes, soziale Isolation. Trotzdem tanzen die Menschen, aber sie sind geimpft, PCR-getestet und werden beim Herumwirbeln großzügig desinfiziert. Auch der Film zieht sich in klinisch-glatte Cinemascope-Bilder zurück, drosselt sein Tempo merklich; es sind die einzigen Aufnahmen, die Jia für seinen Film neu gedreht hat.

Spätestens wenn sich Qiaoqiao und Guo Bin nach all den Jahren wiederbegegnen und die Masken abnehmen, erzählen die Falten in den Gesichtern, aber auch die stumpf gewordenen Augen, eine Geschichte vom Älterwerden, die Zhao Tao (übrigens Jias Ehefrau) und Zhubin Li als Leinwandkörper natürlich gleichermaßen betrifft. Worte brauchen sie dafür nicht, es wird wenig bis gar nicht gesprochen in Caught by the Tides. Sehr sporadisch tauschen sie Textnachrichten aus, die wie Zwischentitel im Stummfilm eingeblendet werden. Nach einem intensiven Blickduell liest ein besorgter und überaus belesener Supermarkt-Roboter eine tiefe Traurigkeit in Qiaoqiaos Gesicht. Er liegt damit nicht unbedingt falsch.

Dinge wieder und wieder tun

Wobei die Lesbarkeit von Gesichtern ebenso in Frage zu stellen wäre wie die Lesbarkeit eines derart intertextuell verklebten Films, der eigentlich viel zu viel auf einmal will. Caught by the Tides ist, so gesehen, auch ein Stück Auteurismus im Endstadium. Jia wühlt im eigenen Werk herum, das mag hermetisch wirken. Aber er wühlt ohne die Absicht, an seinem Vermächtnis zu feilen, vielmehr mit einem uneitlen Blick für Vergessenes, Übersehenes, Abseitiges. Was er findet, sind keine Schätze, es ist nicht einmal wirklich neu, auch die reduzierte Liebesgeschichte inmitten gewaltiger Umwälzungen hat Jia schon oft erzählt. Dass er sich nicht zu schade ist, es nochmal zu tun, sie ins (mittlerweile auch schon wieder historische) COVID-Zeitalter zu verlängern, macht dieses Projekt so besonders – und, vor allem zum Ende hin, so bewegend.

Vielleicht ist es diese Beharrlichkeit, Dinge wieder und wieder zu tun, die Zhao Taos unleserliche Miene am treffendsten beschreibt. Im Winter glaubt sie an die Wärme des Frühlings. Anders als ihr Verflossener hat sie verstanden, dass man sich mit dem Sturm des Fortschritts arrangieren muss, um nicht unterzugehen. Wie ein pragmatischer Engel der Geschichte nutzt sie ihn als Rückenwind, spannt leuchtende Flügel gegen die Dunkelheit auf, denn dunkel ist es. Statt Engelsgesang entlädt sich ein Schrei, der anzeigt, wo es langgeht: beständigen Laufschritts vorwärts.

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