Call Me by Your Name – Kritik
Jede Berührung ein nicht einzuhaltendes Versprechen. Luca Guadagnino lehrt seinen jugendlichen Protagonisten, dass das Leben aus nichts als Teasern besteht.

Da muss der Assistent dem Professor dann doch mal widersprechen: Es sei zwar richtig, natürlich habe das Wort „Aprikose“ auch ein arabischstämmiges Element, etymologisch sei die Sache aber noch erheblich komplizierter. Und dann berichtet Oliver (Armie Hammer), wie unterschiedlichste Silben aus unterschiedlichsten Sprachfamilien mit unterschiedlichsten Bedeutungen – „frühreif“ ist eine davon – zueinander gefunden haben, um „Aprikose“ entstehen zu lassen. Elio (Timothée Chalamet), der 17-jährige Sohn des Professors, sitzt dabei, könnte sich aber kaum weniger interessieren für die Worte, die aus Olivers Mund kommen, weil er sich kaum mehr interessieren könnte für diesen Mund selbst, und den Körper, zu dem er gehört. Auch das Obst interessiert Elio nicht als Sprache, sondern als Körper, wenn er nämlich später im Film mit dem Finger ein saftiges Loch in einen reifen Pfirsich bohrt, sie in seine Boxershorts verschwinden lässt und in ihm kommt.
Antike Körper
Es geht nicht um Sprache und nicht um Herkunft in Call Me By Your Name, es geht um Stoffe und Körper, um Sonnenbrillen, Badehosen und nackte Haut, um die Dinge selbst, und um ihren sexuellen Gebrauchswert. Das gilt auch und gerade für Oliver selbst: Er soll Professor Perlman (Michael Stuhlbarg) für sechs Wochen bei seinen archäologischen und/oder kunsthistorischen Forschungen in Norditalien unterstützen, aber außer dass er an der amerikanischen Ostküste ansässig ist und ebenso wie die Perlmans jüdisch ist, erfahren wir kaum etwas über ihn. Die Bilder legen ohnehin nahe, dass Oliver ganz woanders herkommt. Dieser große, schlanke Körper mit seinen breiten Schultern ähnelt so sehr den Statuen, die Perlman birgt und untersucht – er scheint direkt aus der Antike aufgetaucht. Vielleicht wird Professor Perlman deshalb, in einer der ungewöhnlichsten und schönsten väterlichen Ansprachen, die das Kino gesehen hat, über die „besondere Freundschaft“ zwischen seinem Sohn und Oliver nicht argwöhnisch und mahnend, sondern fast neidisch sprechen.
Later!
Diese besondere Freundschaft beginnt als eine zwischen Fremdem und Fremdenführer. Elio soll Oliver das Haus und die Gegend zeigen, die beiden freunden sich an. Man könnte sagen, „irgendwann wird mehr draus“, nur dass Call Me By Your Name vom ersten Moment an so sehr von diesem Mehr durchzogen ist, dass die Beziehung zwischen Oliver und Elio kaum chronologisch als Abfolge von Entwicklungsstufen beschrieben werden kann. Es steckt ja schon alles in Olivers Verabschiedungsfloskel „Later“, über die sich die Familie Perlman gern lustig macht. Elio erkennt darin weniger Komik als eine gewisse Arroganz, aber das hat nur damit zu tun, dass für ihn wie für diesen Film Sprache kein Selbstzweck ist, sondern stets auf etwas verweist, das nicht versprachlicht werden kann. Und dieses amerikanisch hingerotzte „Later“ drückt eben immer auch den Aufschub des Begehrens aus. Oder besser: das Begehren als Aufschub. Denn eigentlich ist Call Me By Your Name ein einziges Vorspiel, ein Film, der Sinnlichkeit nicht als Genuss, sondern als Spannung denkt, und für den Berührungen nicht das Einlösen von Blicken sind, sondern selbst nur Versprechen, die niemals einzuhalten sind.
Ewiges Zögern

So sind nicht nur die frühen Berührungen, die auf eine intuitive Zuneigung hinweisen, sondern selbst die endgültig sexuellen kein glückstrunkener Vollzug, nach dem sich der Film selig in den Abspann verabschieden könnte. Selbst dann ist nichts geklärt, müssen sich die Körper weiter zueinander verhalten, wollen mehr, wollen nochmal, aber vielleicht nicht hier, vielleicht woanders, vielleicht nur teasern. Vor allen Dingen sich nicht weh tun. Das Zögern also bleibt, auch wenn das Verzögerte passiert ist. Das ist nicht tragisch, sondern erotisch. Dass Elio stets zu früh kommt, ob im Pfirsich oder in Marzia (Esther Garrel) – sein love interest, das ihm bald egal sein wird –, hat eben damit zu tun, dass Call Me By Your Name das Vorspiel derart zum ästhetischen Prinzip erhebt, dass der Orgasmus nur banal sein kann. Ein Tropfen auf dem heißen Pfirsich.
Gerät man ins Schwärmen, vergisst man die hard facts. Dabei ist es durchaus wichtig, dass Call Me By Your Name im Jahre 1983 spielt, in dem Olivers Bemerkung, als das Gespräch erstmals intimer wird, nochmal anders klingt: „It means we can’t talk about these things.“ Dass er auf einem Roman von André Aciman beruht. Dass niemand Geringeres als James Ivory am Drehbuch mitgearbeitet hat. Dass in einer vollkommen verzeihlichen Flucht aus dem period piece Sufjan Stevens auf dem Soundtrack zu hören ist. Dass die sonnendurchfluteten Bilder von Sayombhu Mukdeeprom stammen, der schon für Apichatpong Weerasethakul und Miguel Gomes gearbeitet hat. Und es ist durchaus erstaunlich, wie der Film von all diesen Dingen begossen wird und doch wie aus einem Guss erscheint. Ihn selbst wieder in eine Queer-Cinema-Form zu gießen und damit totzuschlagworten, käme einem Verbrechen gleich.
Feuer statt Sonne
In einem ihrer ersten Gespräche fragt Oliver Elio, was er so macht den ganzen Tag lang. Warten, dass der Sommer zu Ende geht, antwortet der. Um dann wieder auf den Sommer zu warten? fragt Oliver spöttisch. Erst in der allerletzten Einstellung ist Winter, gibt es keine Sonne mehr und keine nackten Oberkörper, ist Oliver längst wieder in Neuengland, starrt Elio ins Kaminfeuer, während im Hintergrund das Essen zubereitet wird. Es ist das erste Mal, dass der Sommer wirklich zu Ende ist. Nun ja: Later!
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Kommentare
fifty
Der Film hätte das Zeug gehabt ein guter Film zu werden, wenn er zugelassen hätte, dass man seine Figuren kennenlernt. Stattdessen sieht man den Rückzug in ein analoges Kodakcolor-Wohlfühl-Paradies europäischer 80er Jahre, wo Reiche noch gebildet und kulturell versiert sind, Taschenradios und Bücher Bildschirme ersetzen, Autos bunt sind, Mütter nicht nerven und Väter so warmherzig weise sind wie Robin Williams. Der Film strotzt eigentlich vor intellektueller und ästhetischer Eitelkeit und Arroganz. Und weil die Figuren so stereotyp angelegt sind und ziemlich vorhersehbar agieren, können sie dieses nostalgische Wunschkonzert nicht so beiläufig erscheinen lassen, wie beabsichtigt. Eher nervt recht schnell die ganze italienische Sommerszenerie, weil sie wie ein bloßer Vorwand wirkt für das permanente Zeigen von nackten Oberkörpern und Shorts, über die in gewissen Abständen Zitate aus Philosophie, Klassik und Antike gestülpt werden, damit die uneingestandene Verehrung von Oberfläche auch Hand und Fuß bekommt. Das Drama der ersten Liebe, die Spannung der Unterschiede zwischen Verliebtsein, Begehren und Liebe (Kechiches „La vie d’adèle“ und Linklaters „Before Sunrise“ lassen grüßen) will sich erst im letzten Drittel des Films entfalten, und die Figuren blühen dann auch endlich auf – aber wer sie sind, wer sie waren oder zu wem sie werden, weiß man da immer noch nicht.
Till
Sind die Figuren jetzt stereotyp angelegt und agieren vorhersehbar oder wissen sie nicht, wer sie sind? Das ist doch gerade das Tolle an dem Film, dass die Figuren nicht wissen, wer sie sind und zu wem sie werden. Diese prekäre Zukunft ist für mich genau der Modus des Films und eigentlich das Gegenteil von Nostalgie. Und die Verehrung von Oberfläche ist ja nun alles andere als "uneingestanden". Das muss man nicht mögen, aber dem Film vorzuwerfen, dass er an etwas scheitert, das er gar nicht versucht, finde ich immer schwierig.
Heide Limpert
Ein leichtfüßiger Film – ja, es geht um die erste Liebe, um das erste Begehren. Wie schön: das Thema Homosexualität wird nicht problematisch, in keiner Sequenz filmisch thematisiert. Keine großartigen Bekenntnisse "ich liebe Dich", kein unnötiger Filmkitsch. Lediglich ein Staunen, ein "sich Blicke zuwerfen" – in einer Idylle in Oberitalien. Sind sie nicht so die "Urlaubsflirts"? Wunderbar umgesetzt von Luca Guadagnino. Armie Hammer in seiner besten Darstellerkunst: melancholisch, der achtsame Verführer. Timothee Chalamet trägt den Film mit Leichtigkeit, jungenhaft, frech, eingebettet in sein Begehren und Nichtwissen über seine Orientierung – arthouse at its finest. Danke, Luca Guadagnino. Ihre Trilogie über das Verlangen, über das Begehren sollte mit diesem Film enden.
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