By the Stream – Kritik

Locarno Film Festival 2024: In Hong Sang-soos neuestem Film webt eine Künstlerin an Flüssen großformatige Werke, während ihr Onkel an die Uni zurückkehrt, um ein Theaterstück zu inszenieren. By the Stream ist für Hong-Verhältnisse geradezu episch lang geraten – und trägt so dick auf wie die Natur.

Dieses Jahr markiert bereits das vierte in Folge, dass Hong Sang-soo gleich zwei Filme bei großen Festivals vorstellt. Nach dem Berlinale-Beitrag A Traveler’s Needs folgt mit By the Stream (Suyoocheon) nun der zweite 2024er-Streich in Locarno. Hongs Verlässlichkeit rührt allerdings weniger von der technischen Präzision eines Schweizer Uhrwerks als von der intuitiven Arbeitsweise des Koreaners: Ausgangspunkt für jeden Film sind erst mal Menschen und Orte; morgens wird geschrieben, nachmittags gedreht; der Schnittprozess nimmt ohnehin selten mehr als einen Tag in Anspruch. Und doch ist hier nichts mit heißer Nadel gestrickt, alles ist sorgsame Handarbeit.

Kapitel eines unendlichen Romans

In By the Stream gibt die an der Duksung-Universität lehrende Künstlerin Jeon-im (Kim Min-hee) Auskunft über ihren kreativen Prozess, der an Hongs Routine erinnert: Am Webstuhl schafft sie pro Stunde etwa zehn Zentimeter Stoff. Bei fünf Arbeitsstunden am Tag und einer zu erreichenden Länge von zwei Metern braucht sie also vier Tage, um ein Werk abzuschließen. Inspiration findet sie in der Natur: etwa am titelgebenden Fluss, an dessen Ufer sie jeden Morgen sitzt und Motive ins Notizbuch skizziert, die sie später auf großformatige Gewebe überträgt. Überhaupt sitzt sie oft nebendran, vermittelnd, beobachtend – und hält doch die Fäden in der Hand.

Das Ergebnis ist die Serie Flowing Water, ihre Teile sind jeweils nach dem Fluss benannt, der Modell gestanden hat: Hang, Jungrang, Suyoo; es geht flussaufwärts, gegen den Strom. Die Beziehung vom Teil zum Ganzen wird in Hongs Filmen, die Kapiteln eines unendlichen Romans ähneln, immer neu variiert. „Ist das ein übergreifendes Werk, oder stehen die einzelnen Teile für sich?“, fragt Jeon-ims Onkel Chu Si-eon (Kwon Hae-hyo) einmal, vor einem Triptychon stehend, das Professor Jeong (Cho Yun-hee), Jeon-ims Mentorin und Mutterersatz, gefertigt hat.

Dialogskelett und Schauspielfleisch

Abgesehen von der für seine Verhältnisse regelrecht epischen, fast zweistündigen Laufzeit ist das akademische Setting für Hong, wenn nicht eine Rückkehr zur Quelle, so zumindest eine Rückkehr zu frühen Filmen, besonders in puncto wehleidig-narzisstische Männerfiguren. Chu Si-eon ist aus beruflichen Gründen zu Besuch: Vor 40 Jahren hat er bereits ein Stück an dieser Uni inszeniert. Jetzt soll er einen jungen Kollegen ersetzen, der nicht mehr tragbar ist, seit ans Licht gekommen ist, dass er während der Proben Affären mit insgesamt 3 (!) seiner 7 Studentinnen unterhielt. Eine brisante Dopplung: Auch Jeon-ims Onkel trägt einen Rucksack voller Altlasten mit sich rum, scheut sich aber nicht, Reue zu zeigen – wofür bleibt zunächst vage; später wird eine politische Lesart angedeutet, die aber nicht weniger unklar bleibt. Sein Inszenierungskonzept, eine Mischung aus Dialogskelett und Schauspielfleisch, verrät ihn endgültig als Hong-Stand-in: „Wichtiger als die Dialoge sind Gesten, Körperbewegungen, Modulationen der Stimme, und das, was ihr mit euren Augen macht.“

Der junge Kollege hingegen ist sich keiner Schuld bewusst, redet sich in Rage, verschafft sich Zutritt zum Campus, was Unbefugten eigentlich verboten ist. Auch wo geraucht werden darf und wo nicht, ist – nicht zum ersten Mal bei Hong – streng reguliert. Identitätspolitische Debatten über Cancel Culture oder Safe Spaces sind hier zwar im Text angelegt, aber vor allem in den Gesten präsent. Tröstende Hände, die man sich über den Tisch entgegenstreckt, solidarische Handschläge unter Frauen, sagen mehr aus als abgegriffene Diskursbausteine.

Wenn Hong eine Hand ausstreckt, dann zoomt er. Nicht um einen geschützten Raum zu beschneiden, sondern um ihn überhaupt erst zu erschaffen, mit einfachsten Mitteln, durch neu justierte Bildrahmen, in denen sich die Figuren geborgen fühlen wie im sanften Lichtschein einer Lampe draußen bei Nacht. Die dahinplätschernde Handlung erlaubt auch der Kamera innezuhalten; selbst nachdem sie die Figuren bereits schwenkenderweise über die Bildränder hinausbegleitet hat, verharrt sie noch einen Moment, auf einem Baum oder in einem Hausflur. Auch der Mond wird in unterschiedlichen Reifestadien mehrmals ins Bild gesetzt. Möglicherweise ein Verweis auf Éric Rohmers Vollmondnächte (1984), in jedem Fall eine Zäsur, die anzeigt, dass die Tage enden und der Herbst seinen Lauf nimmt.

Wetter ist wichtig

Nicht nur der Fluss, auch der Alkohol fließt – in allen Spielarten (Bier, Weißwein, Rotwein, Soju und auch von Makgeolli ist zumindest die Rede). Eines folgt aus dem anderen, romantische Annäherungen inklusive. Wer im Aal-Restaurant sitzt, hört den Fluss im Hintergrund rauschen, und auch die Menschen sind nah am Wasser gebaut: Zum Aal wird Bier gereicht, weil sich das so gehört. Spätestens dann kommen die Tränen auf Knopfdruck. Aber es sind keine falschen Tränen, denn die Wertschätzung, der man sich gegenseitig versichert, ist echt. Wie auch die existenzielle Leere der schauspielenden Studentinnen echt ist, als der Regisseur sie zur Improvisationsdichtung auffordert: Was für eine Person möchtest du einmal sein?

Während Jeon-im für ihre Skizzen nur wenige Farben benötigt, trägt Hong dick auf, weil die Natur das auch tut: Herbstfarben leuchten, soweit das Auge reicht; eine Farbpalette so reichhaltig, dass sich die Menschen gegenseitig vergewissern müssen, wie schön das doch sei. „Wetter ist sehr wichtig“, sagt Hong Sang-soo in der Pressekonferenz zur Premiere. Jeon-im weiß sich anders auszudrücken. In der schönsten Szene des Films hebt sie ein riesiges abgestorbenes Blatt vom Boden auf und beginnt, damit anmutig herumzuwedeln, wenn nicht sanft zu tanzen. Aus taktvoller Ferne schaut die Kamera ihr dabei zu, bis sie leicht nach oben schwenkt, in die Baumkrone, wo die anderen vom Herbstlicht durchfluteten Blätter artig darauf warten, dass der Wind sie zum Tanz bittet.

Dazu ertönt ganz unverhofft ein musikalisches Motiv, gewohnt trashig, gewohnt übersteuert und von Hong selbst komponiert, der wie immer alle filmischen Gewerke bedient. Für einen Moment sind alle Versäumnisse und Verfehlungen der Vergangenheit egal, water under the bridge, auch wenn dieser Fluss keine Brücken braucht. Man kann darin spazieren, Dinge suchen und überhaut nichts finden, aber vielleicht ist überhaupt nichts schon mehr als genug: zwei Meter Stoff, ein zehnminütiges Dramolett, eine zum Bild erstarrte Bewegung.

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