Blutsauger – Kritik
Wenn Marx auch Fantasy gemacht hätte: Julian Radlmaiers Komödie Blutsauger verwebt 1928 und das Jetzt ineinander, um den historischen Materialismus in die Gegenwart zu hieven.

Die Selbstkritik geht weiter: Da ist am Anfang von Julian Radlmeiers Blutsauger ein Marx-Lesekreis im Sonnenschein am Strand. Alle bis auf einer haben das Pensum geschafft, die Leiterin stellt, langsam und deutlich formuliert, wie aus dem Pädagogik-Lehrbuch, anregende Fragen über den alten Mann mit dem grauen Rauschebart. Und der junge Mann mit dem braunen Rauschebart gibt ein paar scharfsinnige Gesichtszüge zum Besten, bevor die noch scharfsinnigeren Rückfragen aufgesetzt werden: Irgendwo in einer Fußnote im Kapital redet Marx vom Kapitalisten als Vampir, als Blutsauger, der an den Arbeitern saugt „solange noch ein Muskel, eine Sehne, ein Tropfen Blut auszubeuten“ ist. Da kann man dann schonmal schlau nachfragen, um schlau nachgefragt zu haben: Glaubt Marx jetzt echt, dass Kapitalisten Vampire sind oder was?
Alberne Wimmelbilder
Diese Frage, dieses Missverständnis, ist der Ausgangspunkt von Blutsauger. Im Gegensatz zum Typ, der im Lesekreis nur die Augen rollen kann, geht Radlmaier der Rückfrage nach, fabuliert in seinem neuem Film lust- und humorvoll herum, wie das aussehen würde, wenn Marx auch Fantasy gemacht hätte und nicht nur politische Ökonomie. Für Radlmaier in etwa so: 1928 trifft die Erbin von Großgrund und Fabrik für Salben gegen Bisse, Octavia Flambow-Jansen (Lilith Stangenberg), die sich schnell als Vampirin entpuppt, an ihrem Ostseedomizil auf den Baron Ljowuschka (Alexandre Koberidze), der sich ziemlich schnell als proletarischer Trotzki-Darsteller in Eisensteins Oktober entpuppt. Wegen Stalin musste er fliehen, aus „politischen Gründen“, was die junge Erbin ziemlich aufregend findet, so wie überhaupt diese Geschichten aus dem fernen Land: ganz wie bei Tolstoi!

Und so reden und flirten sie miteinander, wie Radlmaier-Figuren miteinander reden: mit leicht theatraler, entrückter Haltung und trocken bis quirky vorgetragender Gegenwartssatire in den Dialogen. So stehen sie auch in Markus Koobs ein bisschen Wes-Anderson-haften, durchkonstruierten Bildern, die gerade in den Totalen ziemlich vollgepackt, gründlich bis in die hinterste Ebene durchinszeniert sind. Ein bisschen wie bei Wimmelbildern kann man hier leicht etwas verpassen, muss man manchmal vom Eigentlichen abschweifen, um noch die letzten, im besten Sinne albernen Performances und Kostüme mitzukriegen.
Vergangenheit und Gegenwart als dialektisches Bild
Aber auch wenn das bei Radlmaier immer ziemlich lustig aussieht und meist auch lustig ist: Dass das beiläufige Bild des Vampirs tatsächlich zum Film wird, liegt auch daran, dass solche Bilder ernst genommen werden müssen. Solche Bilder, das heißt: solche Behelfswörter, Metaphern, andere Missverständnisse, Verkürzungen, Ergebnisse und Werkzeuge von marxistischen Kämpfen, die im Diskurs schnell mal zu ewigen Wahrheiten, zu heiligen Zielen oder immerwährenden Fakten eingefroren, anstatt als aus materiellen Analysen geborene, stets bewegliche Sachverhalte begriffen zu werden.

Das Jahr 1928 in Blutsauger ist da kein zufälliges: Schließlich ist nicht nur Lenin schon tot, sondern auch Stalin inzwischen alleinherrschender Diktator – und die Idee der revolutionären Bewegung durch die Geschichte zu einem vergangenem, festen Zeitpunkt in der Geschichte verkommen: „Die Revolution hat vergessen, die Lohnarbeit abzuschaffen“, sagt Ljowuschka da einmal enttäuscht. Und so kann Octavia mit Fug und Recht aus diesem spannenden Russland hören wollen, einem Russland, in dem nichts mehr realer Prozess, sondern alles nur noch festgehaltene Geschichten sind. Und sie kann sich russische Kunst aufhängen, die nun die stabilen Wände des Herrenhauses zieren, anstatt in eine instabile Situation einzugreifen.
In diesem Sinne ist Radlmaiers Blutsauger tatsächlich ein Bild in Bewegung: ein dialektisches, das es zusammen mit dem Material der Vergangenheit auf das der Gegenwart abgesehen hat und nur mit der Gegenwart überhaupt auf die Vergangenheit sehen kann. Die Ostsee-Fabriken des Jetzt, ihr Äußeres wie ihr Inneres dienen hier ganz unverhohlen für die Darstellung von 1928. Und sie können das nur, weil sie noch 1928 in sich tragen. Weil sie eben Fabriken sind, die nicht der Arbeiterschaft gehören, ihr aber bedürfen, eine Arbeiterschaft, die also nach wie vor an den Geräten steht und stumpfe, manuelle Arbeit verrichtet. Sicherlich ist das für Radlmaier auch gar nicht anders möglich, die materiellen Umstände eines jungen Filmemachers würde den Nachbau historischer Kulissen wohl kaum erlauben. Aber wie schon in seiner Meta-Komödie Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes macht er auch hier Nachteile so produktiv wie kaum ein anderer.
Den Marxismus in die Gegenwart hieven

An erster Stelle will so ein Stil, ein ironischer Umgang mit Dialektik und Materialismus, den Marxismus in die Gegenwart zu hieven. Und dabei ein bisschen Ordnung in den monströsen Haufen marxistischer Diskurse bringen. Die sich selbst karikierenden Lesekreise, die realsozialistischen Versuche oder eben die theoretischen Verwirrungen nach Brauchbarkeiten zu durchsieben – oder zumindest aufzuzeigen, wie sie sich selbst im Weg stehen –, da leistet Radlmaiers Film sicherlich am meisten. Gerade die Verwirrung darum, wer und warum Arbeiter ist, und ob es das überhaupt noch gibt, ist hier zentral. Nicht umsonst widmet Radlmaier seinem Jacob (Alexander Herbst), dem Diener von Octavia, ein ganz eigenes Kapitel. Der stammt aus proletarischen Verhältnissen und hat es, wie Octavia es nennt, zum „persönlichen Assistenten“ gebracht. Aber der Job außerhalb der Fabrik zahlt den Preis des Klassenbewusstseins: „Ich stelle überhaupt nichts her und schon gar keinen Mehrwert“, sagt er da zu einer Teilnehmerin des kommunistischen Lesekreises nachdem sie ihm ihr neustes Wissen von der Mehrarbeit mitgeteilt hat. Naja gut, aber dann soll er wenigstens noch zum sozialistischen Wettschwimmen kommen.
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