Beginning – Kritik
Neu auf MUBI: Ein Brandanschlag auf eine Kirche, eine Vergewaltigung am Fluss. Der Schock im Schönen, Gewalttaten inmitten gewaltiger Bilder, das ist das Prinzip von Dea Kulumbegashvilis Beginning.

Eine Landschaft bei Nacht, auf der Tonspur rauscht’s und plätschert’s. Im Vordergrund ein paar blass violette Fliederblüten, eingehegt von ausgesuchtem Grün. Im Zentrum schlängelt sich ein kleiner, durchaus wilder Fluss eine Serpentine entlang, flankiert von Steinen, über die sich sicherlich gut balancieren lässt. Am oberen rechten Bildrand, wo ein Stein dem Strom im Wege steht, bricht sich das Wasser zu einem weißen Strudel. Dahinter, darüber, verliert sich das Ufer. Irgendwo im Flussbett in der Bildmitte vergewaltigt ein Mann eine Frau.
Ästhetik der Ruhestörung

Der Schock im Schönen, Gewalttaten inmitten gewaltiger Bilder, das ist das Prinzip von Dea Kulumbegashvilis Beginning. So geht es schon los: Mitten in einer geduldigen Predigt über Abraham, die David, Vorsteher einer kleinen Zeugen-Jehovas-Gemeinde im georgischen Bergland, hält, fliegt ein Molotowcocktail in die kleine Kapelle. Die Anwesenden werden panisch, versuchen verzweifelt, mit den Bänken die Fenster von innen aufzustoßen, „Wir brauchen Luft!“ ist zu hören, ein paar Leute schlagen mit ihren Jacken auf das Feuer ein. Noch ein Brandsatz fliegt rein, diesmal im vorderen Teil, die Gefahr ist noch längst nicht gebannt, die Menschen panischer, nur die Kamera bleibt ungerührt. Erst ein Schnitt bringt die Erlösung, aber von nun an sind wir konditioniert: auf Kontemplation folgt Ruhestörung.
Eine Handlung knüpft die Gewalttaten in den gewaltigen Bildern aneinander: David (Rati Oneli) ist verheiratet mit Yana (Ia Sukhitashvili), der später am Fluss vergewaltigten Frau. Die diesen Film bestimmt. Der wiederum nicht sicher ist, wie selbstbestimmt diese Yana ist, oder eher: der eben diese Frage aufwirft. Einen Blick ins Innenleben liefert höchstens der eheliche Dialog nach dem Anschlag aufs Gotteshaus: Yana will nun endgültig umziehen, ein neues Leben anfangen. David, der erstmal die Kapelle wiederaufbauen will, reagiert mit weinerlichem Chauvinismus: Fang jetzt nicht schon wieder damit an, du wusstest, worauf du dich mit mir einlässt, ich habe Kopfschmerzen, ich muss nachdenken, ich brauche jetzt vor allem deine Unterstützung. Yanas Unglück will er lieber mit einer Therapie reparieren als zu versuchen, es zu verstehen.
Das ganze Drama

Das Patriarchat ist subtil, in Gestalt des sanft dominanten David, und es ist brutal, in Gestalt eines Polizisten (Kakha Kintsurashvili), der sich den Umstand zunutze macht, dass der Gemeindevorsteher für ein paar Tage wegfährt, um auf einem Jehova-Kongress Geld bei den Ältesten für ein neues Gebäude einzutreiben. Das Klingeln stört Yana, als die gerade die Arbeit über ein paar Papieren unter dem schwachen Schein einer Tischlampe unterbrochen hat, und so beendet es einen der schönen Hopper-Momente dieses Films: Eine Frau ruht sich aus, macht den unbequemen Stuhl zu einer Liege, eine menschliche Existenz als Diagonale durchs Bild, eine Versunkenheit in Gedanken und Problem. Ein Bild, eine Dauer.
Aber auf Kontemplation folgt eben Ruhestörung. Und ein ungebetener Gast, der bald interessierter am Privatleben des Paares scheint als am Anschlag, der Yana bald obszöne Fragen stellt, die sich anfangs noch wehrt und dann nachgibt. Er nimmt ihre Hand und steckt sie sich in die Hose, dann geht er. Beim zweiten Klingeln ein paar Szenen später ist es Yana, die geht, nach draußen, ganz freiwillig, nach dem Rechten sehen. Die Sequenz endet im Flussbett.
Glasklare Bilder erratischsten Verhaltens, Gewalt, und Geschlecht, und Religion. Nicht einfach nur Existenzen, sondern das ganze Drama menschlicher Existenz. Man spricht ja manchmal von Festivalfilm als Quasi-Genre, meint damit eine kalkulierte Form des Weltkinos, bedeutungsschwanger und dann eben doch eher gefällig, sich Cannes oder Venedig oder Berlin anbiedernd wie Bewerbungsschreiben. Kulumbegashvilis Film bedeutungsschwanger zu nennen, ihn auf seinen Kunstwillen zu reduzieren, würde Beginning zwar nicht gerecht. Und doch scheinen mir die sorgsam ausgewählten und mitunter tatsächlich umwerfenden Einstellungen manchmal als Teil einer Rechnung.
Einige Zutaten

Beginning ist nicht der einzige Film, der an einer Krankheit leidet, zu der man noch mehr forschen müsste, eine Krankheit, die gerade das virtuoseste Werk in seine Zutaten zerfallen lässt. Die da unter anderem wären: die biblische Allegorie fürs Zeitlose (natürlich abgewandelt, angeeignet, interpretiert); die sorgfältig ausgeleuchtete Mise-en-scène, die spärlichen Kamerabewegungen (bloß achtsam sein mit den filmischen Mitteln!); das 4:3-Format, längst Lieblingsformalie stilbewusster Eigenbrötler:innen; die leicht verrätselte Handlung (dem Kino sein Geheimnis nicht nehmen …), die doch genügend Motive im Gepäck hat, um Themen zu triggern (… und doch was zu sagen haben), die dokumentarisch anmutenden Intervalle (dieses Mal: die eigensinnigen Kinder von Yanas Bibelklasse, wie sie, und das ist sehr komisch, vor der Taufe eher schlecht als recht ein paar theologische Grundkenntnisse abgefragt werden) und die für sich stehenden Kleinode von Aufnahmen (die Taufprozedur im Fluss aus der Vogelperspektive); schließlich ein Schlussbild, das mythischen Überbau und Körperlichkeit per CGI zusammenführt (jede Technologie ist erlaubt, solange sie im Dienst der Transzendenz steht).
Ohne Zweifel

Genießbar sind alle diese Zutaten, aber etwas zu lesbar das Rezept, das Gericht mit schwerfälliger Geste serviert, begleitet von bedeutungsvollen Andeutungen in der existenziellen, quasi-religiösen Sprache einer Cinephilie, die ihre Heiligen ehrt. Das vielleicht Kalkulierte richtet sich weniger auf ein bestimmtes Publikum als auf eine bestimmte Idee von Kino, die weniger ökonomisches als kulturelles Kapital abwirft, und die auf einem Festival wie Cannes, wo Beginning hätte laufen sollen, mit strenger Miene hochgehalten wird. Dort wäre der Film als Regiedebüt ein Überraschungsgast, aber einer, der seinen Auftritt lang geplant hat: Die Kurzfilme der Columbia-Film-School-Absolventin liefen schon in Cannes, das Drehbuch wurde im Sam Spiegel International Film Lab entwickelt, der Film schließlich von Carlos Reygadas produziert, und der bereits von Audiard und Larraín eingestellte chilenische Experimentalmusiker Nicolas Jaar hat für den Abspann noch ein paar schiefe Klänge komponiert.
Wenn auch solche eher fiesen Formulierungen in einen Kopf gelangen, der sich mit Beginning zu beschäftigen hat, dann sicherlich auch, weil diese Beschäftigung so anders stattfindet als geplant: keine Überraschung in Cannes, keine Gläubigen und Häretiker, kein Festival-Buzz, kein von Vorschusslorbeeren oder sogar -palmen begleiteter Kinostart in Deutschland, kein Backlash, keine Debatte. Sondern ein exklusiver Release auf der Streaming-Plattform MUBI, dem wir von unseren jeweiligen Sofas frönen. Und nach dem Abspann geht kein Licht an, sondern Luca Guadagnino leitet vom entsprechenden Sofa das aufgezeichnete und sozial distanzierte Q&A mit der Regisseurin ein, und zwar mit der Erklärung, Beginning sei „ohne Zweifel für alle, die ihn sehen, eine transformative Erfahrung“. Im Kino hätte ich also vielleicht nicht sofort gedacht: Ein paar mehr Zweifel hätten Beginning wohl gutgetan.
Den Film kann man bei MUBI streamen.
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Kommentare
Manfred Lepau
Danke - die Kritik ist absolut stimmig. Seltsamerweise gibt es eine Menge dieser pathetisch aufgeladenen Filme von jungen sog . "Eliten" denen in den USA der Hof gemacht wird. Begrenzte junge Personen meist , die wie hier von "transformativer Erfahrung" faseln, ohne selbst erklären zu können, was das sein soll. Woke Betroffenheits Kitsch. Made in USA übrigens , auch wenn Georgien drauf steht .
1 Kommentar