Bacurau – Kritik
VoD: Udo Kier mit Gewehr, Sônia Braga mit weisen Ratschlägen und Alkoholproblem, ein Dorf gegen den Rest der Welt. In Bacurau tummeln sich Allegorien und Genrespaß, vor allem aber trifft Humanismus auf ganz viel Glaube ans Kino.

Merkwürdige Dinge passieren in der brasilianischen Provinz. Hat Teresa von Drogen induzierte Halluzinationen, oder gibt es in ihrem kleinen Dorf Bacurau tatsächlich fantastische Vorkommnisse? Schubweise tritt Wasser aus dem Sarg ihrer Großmutter. Sie schaut nochmal hin, alles trocken. Dann fließt das Wasser immer kräftiger. Seit Kurzem wird im Dorf Wasser schmerzlich vermisst, jemand blockiert mit Gewalt den Zufluss, per Tanker wird mühselig frisches zu ihnen transportiert. Wenn es ankommt, ist es ein Fest: Die Dorfbewohner helfen sich gegenseitig, schieben die Rohre ineinander, damit es zu allen fließt, duschen ganz ohne Scham voreinander und genießen das Nass.
Utopie menschlicher Verständigung

Noch bevor Kleber Mendonça Filho und Juliano Dornelles in ihrem ersten gemeinsamen inszenierten Film Bacurau die Spuren der Fantastik und der Science-Fiction weiter verfolgen, setzen sie auf die Gemeinschaft. Nähern sich ihr über eine lange Reise mit dem Wassertanker, lassen Teresa (Barbara Colen) einen roten Koffer mit Medizin über den steinigen Boden hinschleppen, zeigen kurz die Blockade des Wassers aus der Ferne und markieren das Setting als eine Art von Western-Frontier. Dessen Herz ist eine Utopie der menschlichen Verständigung. Ärztin, Lehrer, Hure, Mörder, Schwule, Heteros, Transsexuelle leben in Bacurau zusammen, nicht konfliktfrei, aber harmonisch, als Gemeinschaft, in der alle füreinander da sind.

Teresa schläft mit Pacote (Thomas Aquino), von dessen Auftragsmorden ein reißerisches Video kursiert, samt Durchnummerierung. Er versichert, die 6 war er nicht. Ehre, wem Ehre gebührt. Teresa ist so schnell nicht überrascht. Das brasilianische Hinterland, das Mendonça Filho und Dornelles arrangieren, ist keine Idylle, in die Gewalt erst hereinbricht – es ist eine Welt der Gegensätze, genährt von einer blutigen Geschichte mit vielen Tätern und vielen Opfern. Wenn später weiße Amerikaner mit ihrer Gewalt hausieren gehen, dann sind die Brasilianer daran längst gewöhnt. Vielleicht weckt es Erinnerungen.
Von der Landkarte verschwunden

Bacurau ist ein Film der Gleichzeitigkeiten und der Überforderung. Genremix trifft auf historische Referenzen, die politische Parabel auf eine Faszination für Menschen und Landschaften. Mendonça Filho und Dornelles feiern das Heterogene gerade im Kleinen, in den Objekten. Die Bösewichte tragen Vintage-Waffen und durchsichtige Displays, daneben gibt es normale Smartphones und ein Dorfwarnsystem über Walkie-Talkies, das eingesetzt wird, wenn sich mal wieder jemand Unerwünschtes nähert. Es passiert häufiger.
Zur konkreten Bedrohung durch den Wassermangel und die konkrete Wut über den käuflichen Lokalpolitiker Tony Junior (Thardelly Lima) gesellt sich eine zunächst eher abstrakte Verwirrung, die bald in Gefahr umschlägt. Erst ist Bacurau von der Landkarte verschwunden, und auch auf Satellitenbildern ist der Ort nicht mehr zu sehen. Dann haben sie keinen Handyempfang mehr. Ein futuristisch aussehendes fliegendes Objekt, vermutlich eine Drohne, verfolgt einen der Dorfbewohner. Schließlich rollen zwei Fremde in abstrus-bunten Kostümen auf Motorrädern ins Dorf, und in der Nachbarschaft werden die ersten Morde entdeckt.

Nicht alles passt zusammen in Bacurau, vieles bleibt rätselhaft, manches ist plump. Vor allem kriegt Udo Kier viele Gelegenheiten, große Auftritte hinzulegen mit bedeutungsschweren Blicken und Worten. Sie fügen sich nicht narrativ ein, wie überhaupt die Kraft des Films keine von Story und Plot ist. Vielmehr schöpfen Dornelles und Mendonça Filho aus dem erzählerischen Arsenal des Kinos, um gleichzeitig Humanismus und Liebe fürs kinetische Erzählen zum Ausdruck zu bringen. Vom Zitat inzwischen weitgehend aus Filmen verschwundener weicher Wischblenden bis hin zur Verfolgungsjagd des Tanklasters aus der Luft werden alle Register gezogen.
Was die Schwerkraft mit der Physis macht

Die Dynamik, die die Regisseure beschwören, lässt eine besonders schillernde Bandbreite an Intensitäten zu. Mal fliegen sie über die Körper hinweg und erarbeiten sich die Konflikte auf planerischer Ebene, stets aber folgt darauf der Sturzflug auf die intime Ebene des Zwischenmenschlichen, das sich dem rein allegorischen Zugriff bewusst entzieht. Natürlich ist in der Genrekonstellation eines von fremden Kräften belagerten Dorfes, das sich wehren muss, reichlich Stoff für eine gerade aktuell drängende politische Lektüre. Vielmehr aber als aus diesem ziemlich groben Arrangement speist sich der Blick auf die brasilianische Gegenwart aus dem unbedingten Willen der Filmemacher zur emotionalen Aufladung des Augenblicks.
Herausragend an diesem reichlich unebenen Film ist seine Art, die Körperlichkeit der Figuren herauszuschälen. Kein Auftritt ohne Akzent auf die Bewegungen und darauf, was die Schwerkraft mit der Physis macht. Nichts wird gesagt, sowieso nichts gefühlt, was sich nicht in Haltung und Gang ausdrücken würde. Das gilt für die Stars nicht weniger als für die vielen unbekannten Darsteller, die sich einer nach dem anderen in die Erinnerung einschreiben, weil Bacurau daran glaubt, dass jede Figur, jeder Mensch einen Unterschied macht. Die Erfahrung von Menschlichkeit, die der Film mit den Mitteln des Kinos ermöglicht, ist ganz eigen, sie geht nicht auf in der Erzählung, sie dient ihr nicht mal immer, aber sie bleibt. Udo Kier sagt am Ende: „This is only the beginning“. Ein Klischee, dahingesagt. Und vielleicht doch auch genau das Gegenteil.
Bacurau ist bis zum 29. November 2022 in der Arte-Mediathek.
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