Graduation – Kritik

Abschlussprüfung des Gewissens: Während Cristian Mungiu die junge Eliza nur in die Freiheit entlassen möchte, will ihr Vater sie gleich durchs Examen zwingen, gebrochene Hand hin oder her.

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Ich mache so etwas eigentlich nicht, sagt der Prüfungsleiter der Schule. Ich mache so was eigentlich auch nicht, erwidert der besorgte Vater. Cristian Mungiu geht es in seinem neuesten Film weniger um die Konkretisierung dieses „so etwas“ als um die Annäherung an das „aber“, das in diesen Sätzen stets mitgedacht ist. Denn das „so etwas“ ist recht schnell geklärt, wir sind schließlich im Post-Kommunismus: Es geht um persönliche Gefallen und Machtmissbrauch, den kurzen, direkten Weg hin zum eigenen Vorteil, die Immunisierung gegen Regeln durch Vitamin B, den Zweck, der die Mittel heiligt, das Gewissen, das sich von diesen Mitteln dennoch plagen lässt. Das Übliche. Unter welchen Bedingungen und mit welchen Folgen greift man auf diese Dinge zurück? Dass man das eigentlich nicht macht, zumindest nicht mehr machen sollte, ist klar. Aber was?

Handicap und Betrug

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Mungius Fallbeispiel ist eine Familie, die längst keine mehr ist. Mutter Magda (Lia Bugnar) verkriecht sich mit Kopfschmerzen in ihrem Zimmer, während Vater Romeo (Adrien Titieni) die gemeinsame Tochter Eliza (Maria Drăguș) zur Schule bringt und dann nicht etwa seine Arbeit als Arzt aufnimmt, sondern geradewegs zur Geliebten Sandra (Malina Manovici) weiterfährt. Das Ereignis, das die Sache ins Wanken bringt, belässt Graduation im Off. Erst als sich Mutter und Vater im Krankenhaus wiedertreffen, ist klar: Eliza ist überfallen, fast vergewaltigt worden, hat sich bei der Abwehr des Angreifers an der Hand verletzt. Und das in der Woche ihrer Abschlussprüfungen. Dieser Kontext ist uns per Dialog zwischen Vater und Tochter im Auto im Vorfeld verabreicht worden: Mindestens neun von zehn Punkten in diesen letzten Examina benötigt die 18-Jährige, um ihr Studium in England anzutreten, für das sie bereits ein Stipendium sicher hat. Schon in diesem Gespräch deutet sich an, dass der Vater von diesem Plan deutlich stärker überzeugt ist als die Tochter, die noch zweifelt, die in ihrer Heimatstadt Cluj schließlich noch Freunde und einen Freund hat.

Konstruktion der Offenheit

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Jetzt hängt die Sache aber erst mal nicht an Elizas Wankelmut, sondern an ihrer labilen Psyche und einem gebrochenen Handgelenk. Es wird eng mit dem Examen. Dafür kann Eliza nichts. Das ist ungerecht. Das rechtfertigt ein Aber. In den für Mungiu typischen ausschweifenden Dialogszenen entfaltet Graduation den Weg zum Betrug, der nicht so heißen darf. Romeos Ressource im Kreislauf der Gefälligkeiten ist die Aufsicht über eine Organspende-Warteliste, auf der auch ein hohes Tier steht, dem wiederum der Prüfungsleiter von Elizas Schule etwas schuldet, und so weiter und so fort. Präzise spinnt Mungiu dieses Netz der informellen Machtbeziehungen. Was ihn dann aber vorwiegend interessiert, das sind weniger die horizontalen Bewegungen als die vertikalen. Denn es führt kein Weg dran vorbei: Der Betrug, der nicht so heißen darf, wird ohne einen Beitrag der jungen Generation nicht funktionieren. Eliza muss selbst tätig werden, muss ihre Klausur markieren, damit der Plan funktioniert, muss die eigene Situation als ein bedeutsames Aber erkennen.

In einer der letzten Sequenzen muss Romeo den kleinen Sohn seiner Geliebten in die Grundschule bringen, von da aus geht es zur Examensfeier der eigenen Tochter. Kinder werden ins System geschoben, Erwachsene kommen raus. Haben sie das Aber verinnerlicht? Elizas Zweifeln, ob sie überhaupt weg will aus Rumänien, ist für Graduation also konstitutiv; nicht als Eigenschaft einer Figur, sondern als offene Frage, ob sich das System reproduzieren wird. Es sind allerdings genau diese offenen Fragen, die Mungius Film nach außen hin verschließen, weil sie fast immer vollständig ausformuliert werden und dabei tendieren zwischen Psychologismen – was würde ich tun? – und den üblichen gesellschaftlichen Analogien. Die Offenheit des Films ist eine genauestens konstruierte Offenheit, sie ist der Narration nicht äußerlich, sondern in ihre DNA eingeschrieben, und deshalb ihrer Kraft beraubt.

Anklage in den Bildern

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Wenn man allerdings dieser Ebene manchmal entkommt, hinaus aus den Dialogen, hinein in die Bilder, dann eröffnet sich tatsächlich noch eine andere Welt. Eine frühe Einstellung funktioniert als Familienaufstellung: die Tochter rechts im Vordergrund, mit dem Rücken zu uns. Um sie geht es im ganzen Film nicht, ihre Autonomie steht nicht zur Debatte. Von ihr werden auch die Eltern irgendwann nur noch den Hinterkopf sehen, das ist völlig klar. Links im Bild sitzt die Mutter auf einem Stuhl und ahnt das, sieht ihrer Tochter ganz gerührt ins Gesicht, so wie diese Mutter überhaupt meistens sitzt in diesem Film und raucht. Auch sie ist vollkommen souverän in ihrer Enttäuschung, spielt in Graduation keine Rolle, weil sie keine Rolle spielen will. In der Bildmitte nun steht Romeo seiner Tochter gegenüber, aufrecht, aber ausdruckslos, noch vor Beginn seiner eigenen Gewissens-Abschlussprüfung. Das Objekt seines Blicks und seiner Zukunftspläne ist längst Subjekt geworden und zweifelt.

Dass er Eliza Gewalt antut, ihre Autonomie beschneidet, das sagt ein weiteres Bild, viel später im Film, wenn erneut der Hinterkopf der Tochter mit dem Angesicht des Vaters konfrontiert wird. Da bleiben wir mal wieder hinter Eliza, als sie bei einer polizeilichen Gegenüberstellung unter vier Kandidaten, die hinter der nur einseitig durchsichtigen Glaswand stehen, ihren Peiniger erkennen soll. Vier harte Männergesichter, und rechts neben ihnen taucht noch ein fünftes auf: das von Romeo, der hinter seiner Tochter steht, sich aber in der Glaswand spiegelt und unwissentlich in die Verdächtigen einreiht. Er glaubt noch, im Hintergrund die Fäden in der Hand zu halten, und ist doch längst mitangeklagt.

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