Axiom – Kritik

VoD: Ein Alltagshochstapler als pathologische Fallstudie oder Gesellschaftsdiagnose: Jörn Jönsson legt in seinem Axiom verschiedenste Spuren, lässt sich aber genau so wenig festlegen wie sein faszinierend unvorhandener Protagonist.

Hochstaplern sieht man gerne dabei zu, wie sie tricksen, lügen und es dennoch ganz nach oben schaffen. Charmant müssen sie sein, wenn sie ehrgeizige Ermittler und reiche Witwen übers Ohr hauen. Julius, der Protagonist von Jöns Jönssons Film Axiom, hat nicht ganz die knabenhafte Eleganz eines Hochstaplers wie Felix Krull oder Leonardo DiCaprio in Catch Me If You Can. Axiom folgt einem, der sich nicht an die Spitze der Gesellschaft, sondern gerade so durch seinen Alltag lügt.

Aus dem Anekdotenkabinett

Einen Segeltrip verspricht Julius (Moritz von Treuenfels) seinen offenbar recht neuen Freunden. Mehrmals schon hat er ihn kurz vor knapp abgeblasen, diesmal soll es nun wirklich dazu kommen. Julius verzögert den Trip mit Ablenkungen und Anekdoten, die, so erfahren wir im Lauf des Films, eigentlich anderen widerfahren sind, aber von Julius als seine eigenen ausgegeben werden. Wenn er will, kann er charmant an jedes Gespräch anknüpfen, mit einem Trick aus seinem Anekdotenkabinett. Als es dann jedoch tatsächlich aufs Boot gehen soll, erleidet er einen wohl simulierten epileptischen Anfall und meidet anschließend jeden Kontakt zu allen am Ausflug Beteiligten. Das ist erst einmal ein Schock. Doch je länger der Film dauert, desto stärker drängt sich der Verdacht auf, dass Julius schon einige Freundeskreise auf ähnlich windige Art verlassen hat.

Allmählich zeichnet sich ab, dass diese steten Neuerfindungen ein Versuch sind, sich von der eigenen Herkunft und allerlei Prägungen zu emanzipieren. Hinderlich ist dabei freilich die Familie, die Herkunft und Prägungen vereint, und nicht so leicht zu ignorieren ist. Die handfesten Sorgen der leidgeprüften und die Lügengebilde gefährdenden Mutter hält Julius mit einem „Mir geht’s gut“ in Schach. Für andere wird Julius’ Familie, eigentlich gutbürgerlich, je nach Gusto zum Adel mütterlicherseits oder zum Drogensumpf erklärt. Jönssons Dialoge haben einen raffinierten Aufbau, der uns alle paar Sätze aufhorchen lässt. Neue Erfindungen werden eingestreut oder wir erkennen eine frühere als gestohlen.

Kunst und Lüge

Julius ist Künstler und seine eigene Kunstfigur. Er stiehlt anderer Leute Lebensausschnitte und fügt sie neu zusammen. Etwas ähnliches tut Regisseur Jönsson selbst, wenn er für das Drehbuch einen Satz von Robert Bresson entleiht, den dieser wiederum von Dostojewski hat: „Haben Sie jemals einen Menschen kennengelernt, der sich nicht selbst überschätzt?“. Es geht um die Frage, ob Originalität noch möglich ist, oder nur gelungene Neuverwertungen.

Auf der Leinwand lügen uns alle an und wir glauben ihnen gerne; so funktioniert Schauspiel. Deutlich wird das spätestens bei einer Bühnenprobe im Film. Julius’ neue Freundin Marie ist Opernsängerin. Im Gegensatz zu ihm hat sie große Probleme damit, die Gefühle ihrer Figur zu behaupten. Das gute Schauspiel als gelungene Lüge. Aber Julius’ Lügen sind kein eleganter Drahtseilakt, sondern vielmehr sorgfältig gehegte, aber riskante Beinaheunfälle, die in seinen schwächsten Momenten hilflosen Übersprungshandlungen gleichen. Wenn er allein ist, ist er egal. Aber er hat auch nicht Teil an der Welt derer, die langweilige Wahrheiten reden.

Das Wagnis, einen derart unvorhandenen Protagonisten zu zeichnen, mit dem man sich schwerlich identifizieren kann, der aber gerade deshalb interessant ist, glückt Axiom. Einen ‚wahren‘ Julius hinter seinen selbstgebauten Fassaden bekommen wir nicht gezeigt. Für andere ist er die Menge seiner Behauptungen über sich selbst multipliziert mit seiner Glaubwürdigkeit. Jönsson stellt damit auch die Idee eines authentischen Inneren gekonnt in Frage.

Pathologisierung und Autobiografisierung

Ein Axiom ist ein Grundsatz, für den man keinen Beweis verlangt. Gott kann so ein Axiom sein, die Menschenrechte ein anderes. In unserem Alltag gilt in der Regel das Axiom, dass schon stimmen wird, was uns das Gegenüber über sich erzählt. Eine andere Deutung des Filmtitels ist, dass Julius ein Axiom fehlt, das ihn im innersten zusammenhalten und an etwas wie eine Identität glauben lassen könnte. In zwei stillen Einstellungen im Film, die nur seine Hände zeigen, scheint diese Möglichkeit für einen Moment auf. In diesen Momenten liegt da etwas Heiliges – der Bezug zur Religion taucht häufiger auf –, das Julius kurz über seine eigene Kontingenz hinwegtrösten könnte.

Der Film ist sich seiner vielen Lesarten sehr bewusst. Die Emanzipationsgeschichte, die Kunstallegorien, die Religionsmetapher und die Authentizitätsdekonstruktion: Axiom setzt sie alle in Szene. Immer wieder entscheidet sich Jönsson aber auch für einen weniger reizvollen Ansatz, der Pathologisierung von Julius’ Verhalten. Einige Gespräche im Film scheinen fast darauf angelegt, sich selbst elterliche Sorgen um Julius zu machen, der oft gefallen und gleichzeitig fliehen will, der als interessant und erfolgreich verstanden werden möchte.

Eine andere Szene legt eine weitere Spur: Ein Auslandsstipendium soll anstehen und die fiktiven Arbeitsstellen werden mit Bedeutung aufgeladen. In einer Welt, in der schon die Schule eine lebenslaufoptimierte Autobiografisierung fordert und ein gutes Leben eines ist, in dem was los ist, scheinen Julius’ Fiktionen also fast notwendig zu sein, um mithalten zu können. So sind seine Behauptungen vielleicht weniger Emanzipation denn Ausdruck der gesellschaftlichen Anforderungen an ihn, Reaktion auf ein Ungenügen: Von allen Stimmen, die aus ihm sprechen, ist seine die schwächste. (Und dieser Satz stammt natürlich nicht von mir, sondern von Martin Walser.)

Der Film steht bis 20.08.2024 in der Arte-Mediathek.

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