Aus dem Nichts – Kritik

Lieber von allem nur ein bisschen, aber Hauptsache viel. Fatih Akin empfiehlt sich in Cannes für den Filmmittwoch im Ersten.

Aus dem Nichts  4

Doppelt hält besser. Die Nachricht auf dem Anrufbeantworter hört man zweimal, das Handy-Video, das einen an den Strandurlaub zurückerinnert, schaut man zweimal, die Pulsadern schlitzt man sich an beiden Armen auf. Damit die Gefühle auch verlässlich überspringen, baut man die Affektmaschine lieber der Anleitung nach und dreht an besonders heiklen Stellen besser eine Zusatzschraube fest. Intensitäten schöpft Fatih Akin aus dem Doppelt- und Dreifachen, nicht aus der Modulation des Ganzen, aus Veränderungen und Prozessen, die einen Film in seine noch offene Zukunft entwerfen würden. Deshalb auch die Gliederung von Aus dem Nichts in drei Kapitel: „Die Familie“, „Die Gerechtigkeit“, „Das Meer“ – so heißen sie. Formgebung von außen. Einzelteile bilden Teile, und Teile bilden ein Ganzes, ein bisschen wie bei dem Tattoo, das sich Katja (Diane Kruger) über der Hüfte stechen ließ, das zwar noch nicht ganz abgeschlossen wurde, im Verlauf des Films aber noch fertiggestellt wird.

Schock, Starre, Tränen, Trauer

Aus dem Nichts  2

Dreimal – in drei Teilen, beziehungsweise in drei eher vergleichbaren als konsekutiven Szenen – erfährt Katja vom Tod ihres Mannes Nuri (Numan Acar) und ihres Sohnes Rocco (Rafael Santana). Es habe eine Explosion gegeben, sagt eine Polizistin, als Katja gerade vor das Übersetzungsbüro ihres Mannes vorfahren will, um Rocco von dort abzuholen. Sie schlüpft unter der Polizeiabsperrung durch, rennt panisch zum Tatort, Beamte hindern sie daran, bringen sie zu Boden. Später wird ihr dann erzählt, dass bei einem Anschlag ein Mann und ein Kind ums Leben gekommen seien – sie geht zu Boden; nochmal. Dann das Ergebnis der Gerichtsmedizin: Nuri und Rocco sind die Toten, daran besteht nun kein Zweifel mehr. Diesmal bleibt sie sitzen, fast gefasst. Die Polizei ermittelt („Hätte das nicht Zeit bis morgen?“), die beste Freundin ist immer für sie da, das Opium lindert das Leid ein bisschen, die Mutter – die Schwiegermutter, denn doppelt hält besser, im Übrigen auch – benimmt sich ordentlich daneben. Schock, Starre, Tränen, Trauer. So weit die Einzelteile, sie wurden erkennbar – das war Teil 1. Teil 2 führt ins Gericht und damit in den wohl problematischsten Teil von Aus dem Nichts.           

Die ficken sich alle gegenseitig in den Arsch

Aus dem Nichts  4

Dass Akins Film nicht sonderlich gut verarbeitet (und auch nicht sonderlich gut gespielt) ist, dass die Dialoge, aus denen er gebaut ist, ihren Schriftcharakter nicht loswerden, dass auch seine ehrgeizige Affektrechnung nicht aufgeht, weil wir ständig den Algorithmus durchschimmern sehen, nach dem er kalkuliert, dass er gewiss eher ins Themenprogramm des Öffentlich-Rechtlichen passt als in den offiziellen Wettbewerb von Cannes, ist das eine. Das andere – das zum Teil freilich daraus folgt – ist, dass Akin mit Aus dem Nichts auch ein ausgewiesen programmatisches Interesse verfolgt und sich als Diskursanreger verstanden wissen will. Neonazistische Weltbilder, xenophobe Gewalttaten, justizielles Totalversagen, Internationalisierung des rechtsextremistischen Terrors. „Die ficken sich alle gegenseitig in den Arsch“, sagt Katjas entrüsteter Anwalt Danilo (Denis Moschitto) einmal nach einem ernüchternden Verhandlungstag. Vorher sahen wir einen Funktionär der Goldenen Morgenröte, der rechtsradikalen Partei aus Griechenland, auf der Zeugenbank. Wir sahen den Täter auf einem Facebook-Foto hinter dem Parteizeichen posieren – ein mit dem jeweiligen Like der beiden Angeklagten gewürdigtes Propaganda-Pic. Damit ist der internationale Zusammenwuchs neonazistischen Gedankenguts für Akin schon hinlänglich ausgewiesen. Problematisch ist nicht, dass er sich bei den Tendenzen verschätzte; sondern dass er sie in solchen vereinzelten inszenatorischen Zuspitzungen eher stillstellt als sichtbar macht, dass mit einem Satz über die scheinbar geteilte Poliebe von Neonazis für ihn im Grunde alles gesagt ist – und dann ist eigentlich noch nicht einmal klar, was dieser Satz tatsächlich ausgedrückt wissen will.

Der Schlund einer teuflischen Allgemeinheit

Aus dem Nichts  5

Noch heikler wird diese Zuspitzungspraxis mit der Figur des Strafverteidigers Haberbeck (Johannes Kirsch), der sich zunehmend selbst als nazistischer Ideologe entpuppt – eine Entpuppung, die auf eine sehr private Einstellung zuläuft: auf ein selbstgerechtes, restlos boshaftes, vergnügt-entwürdigendes Zunicken des Verteidigers in Richtung der Anklage nach Verlesung des Urteilsspruchs. Mit solchen Bildern legt Akin alles lahm, mit solchen Bildern wird kurzerhand das gesamte justizielle Desaster von der Aufdeckung, Ermittlung und Strafverfolgung rechtsradikaler Mörder in Deutschland in den Schlund einer teuflischen Allgemeinheit gebaggert. Aus dem Nichts hat tatsächlich ein dreifaches Problem: Erstens kriegt Akin die Gefühlsmaschine, von der er träumt und immer schon träumte, nicht zum Laufen, zweitens hat er überhaupt kein Interesse an dem gesellschaftsdiagnostischen Anspruch, den er selbst formuliert, und drittens lassen sich diese beiden Register womöglich ohnehin nicht einfach so zusammenmischen. Akin will, dass alles eine Rolle spielt, jede Facette soll ihren Auftritt bekommen: das Persönliche, das Allgemeine, die Trauer, der Hass, der Staat, die Gesellschaft, die Kultur, selbst der globale Zusammenhang – und all das soll sich dann von selbst addieren. Das Ergebnis seiner Rechnung wird am Schluss nochmal ins Bild graviert, mit dem Verweis auf die erschütternde Mordserie an Menschen ausländischer Herkunft durch den Nationalsozialistischen Untergrund. Notfalls hätte man das vielleicht auch ohne diese Signatur verstanden. Aber doppelt hält halt besser.

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Kommentare


robert belzner

critic de schwimmt mal wieder beherzt gegen den strom mit diesem fulminanten verriss eines überall gelobten films. ein grund mehr für mich, ihn heute gleich anzuschauen und mir ein eigenes urteil zu bilden....


Frédéric

... dann sind wir gespannt, was die sichtung ergibt!


Osiris

Alle Juroren und internationalen Kritiker in Cannes sind dann offensichtlich dumm nach dieser Kritik., Ich bilde mir meine eigene Meinung.


Osiris

Internationale Kritiken hervorragend.


Frédéric

Wie kommen Sie darauf? Nicht, dass es unrühmlich wäre, gegen den Strom zu schwimmen, aber das ist hier doch nur begrenzt der Fall, oder? Die Kritiken waren in Cannes recht gespalten - nur als Beispiel: im Kritikerspiegel von critic.de (http://jury.critic.de/cannes/), an dem Kollegen aus Österreich, Spanien, Russland, den USA und Deutschland teilnehmen, ist das Bild besonders kritisch (kein einziger Kritiker hat dem Film mehr als ein + für solide gegeben), aber auch anderswo war die Rezeption alles andere als positiv. Der Verdacht liegt nahe, da wird ein einseitiges Bild medial oder durch eine Werbekampagne kolportiert. Gegenargumente immer willkommen!


R. Schmidt

Chapeau! Eine beeindruckende und zu denken gebende Kritik. Ich bin nicht ganz Ihrer Meinung, was die schauspielerische Leistung angeht, denn vor allem Diane Kruger hat mich (zugegeben: überraschend) doch überzeugt. Die Mängel am Buch legen Sie aber luzide offen. Ich war beim Lesen des Abspanns perplex, dass offenbar Hark Bohm am Drehbuch mitgeschrieben hat. Vielleicht erinnert sich der eine oder andere noch an sein Gerichtsdrama "Der Fall Bachmeier - Keine Zeit für Tränen" (1984); es wäre ein lohnender Vergleich, "Aus dem Nichts" noch einmal mit diesem Film zu diskutieren.


Stefan Eichardt

Lieber Lukas Stern, vielen Dank für Ihre Kritik. Ich habe gerade ein paar Ihrer Kritiken gelesen - alle gut reflektiert und gut geschrieben. Sie haben es gut drauf.
"Aus dem Nichts" hatten wir auch im Programm. War natürlich gut besucht nach all dem medialen Hype - internationale Preise für einen deutschen Film! Ein Rachedrama, nicht mal logisch, überzeichnet, plakativ, sich anbiedernd und auch die hochgelobte schauspielerische Darstellung hat mich nicht umgehauen - denn wie hätte Diane Kruger das auch anders spielen sollen?


Stefan Eichardt

Ich hatte gerade ein Telefonat mit einer Disponentin eines Verleihs.
Wir hatten ein Gespräch über die Qualität verschiedener Filme, zuletzt auch über "Aus dem Nichts", der ihr gut gefiel - vor allem Diane Kruger - und mir nicht.
Ein Film, der m. E. in Programmkinos nichts verloren hat - hinterher ist man klüger.
Was Diane Kruger angeht, gab ich ihr insofern recht, dass sie es überzeugend gespielt hätte. Ich stelle mir in der Tat so vor, dass man sich so fühlt wie sie und letztendlich auch so handelt. Es ist ja eine Rachedrama und ich halte Rache, in einem Fall wie diesem, für legitim, vor allem wenn man sein eigenes Leben hingibt und nicht wie im Krimis üblich versucht so davonzukommen. Ich denke aber, dass die meisten Schauspielerinnen, diese Rolle ähnlich überzeugend und mit ähnlichen Ausdrucksmitteln wie Diane Kruger gespielt hätten.
Witzigerweise war das der Punkt, dass sie den Wohnwagen in die Luft sprengte, der auf viele im Publikum verstörend wirkte - "muss ich drüber nachdenken".
Da sieht man wie stark Mord/ Tötung in unserer Gesellschaft tabuisert und geächtet sind. Aber das wäre ein anderer interessanter Diskussionsgegenstand.
Okay, das ist bisher nicht viel mehr als eine Meinung von mir.

Der Film biedert sich halt an in einem Thema, wo er sich der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit und Akzeptanz der westlichen Welt sicher sein darf.
Ein Thema, das nicht in die Genuss kommt, wäre die gesellschaftliche Gewalt der wirtschaftlich Mächtigen, die zu Entlassungen führt, zu viel zu niedrigen Löhnen und ungesicherten Arbeitsverhältnissen. Ja, es gibt im deutschen Kinofilm ja nicht mal Spielfilme, die in der Gegenwart spielen und in denen moderne Arbeitsverhältnisse vorkommen - also in der Zeit nach 1989.
Die Filme, die das tun, kann man an einer Hand zählen. Einer der das tut war übrigens "Toni Erdmann".

"Aus dem Nichts" hat zudem logische Brüche, in Wirklichkeit, glaube ich, wären die Täter vor Gericht nicht freigesprochen worden.
Man hätte sie u. a. nur mal fragen sollen, wo sie denn den Dünger (der auch für die Bombe Verwendung fand) in ihrer Garage ausgebracht haben wollen und dann durch Bodenproben nachweisen können, dass das nicht stimmt. Sie kamen ja vor Gericht damit davon, dass sie behaupteten, der Dünger sei nicht für den Bau einer Bombe verwendet worden, sondern zum Düngen des Gartens.

Wir hatten übrigens zwei Jahre zuvor die Doku "Der Kuaför aus der Keupstraße" gezeigt.
www.kino-achteinhalb.de/programm/archiv/event/542
Die Doku erzählt die Geschichte des Nagelbombenanschlags vor einem türkischen Friseursalon in der Kölner Keupstraße am 9. Juni 2004.
Übrigens eine filmisch grauenhafte Doku - wer alles so Dokus drehen darf...
Viele Grüße
Stefan Eichardt
Kino achteinhalb Celle






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