Atlantique – Kritik
VoD: Eine Flucht lässt immer auch etwas zurück. In ihrem Debütfilm Atlantique erzählt Mati Diop von einer jungen Frau im Senegal zwischen echter Liebe und verlogener Ehe. Und von Geistern, Brandstiftung, dem Meer.

Als Ada (Mame Bineta Sane) am Strand ankommt, hat Suleiman (Traore) die Party bereits verlassen, gemeinsam mit den anderen Jungs. Nicht nach Hause, auch nicht zur nächsten Party, sondern hinaus aufs Meer, in einer Piroge. Zurück bleiben ein paar Frauen in einer Strandbar irgendwo an der senegalesischen Küste. Herausgeputzt und verlassen sitzen sie auf Barhockern oder im Loungebereich, eingetaucht in die bunten Lichter, die als Einzige noch ein wenig weiterfeiern. Ansonsten guckt man ins Leere oder aufs nächtliche Meer hinaus, das sich außer den ewigen Wellen nichts entlocken lassen will. Atlantique. Auch der Filmtitel weiß nicht mehr, als dass dieses Meer da ist und mächtig.
Kopfschütteln und Entscheidung

Ada kann nicht glauben, dass Suleiman nichts gesagt hat, und wahrscheinlich denkt sie, während die kreisende Discokugel sie mit neongrünen Flocken einsprenkelt, eben daran, dass er ihr vor ein paar Stunden ja noch etwas hatte sagen wollen und sie ihn auf den Abend vertröstete. Vielleicht auch daran, dass wiederum Stunden zuvor, während ihres ersten Wiedersehens nach drei Tagen Trennung, also einer Ewigkeit, nur der Schienenübergang die körperliche Nähe noch ein wenig hinauszögerte, der Zug, der zwischen den beiden durchfuhr, die Blicke aber bereits flüchtig werden ließ.

Woran Ada nicht denken kann, aber wir: an die lange Sequenz, in der wir diesen Suleiman auf dem Weg aus der Stadt zurück nach Hause begleitet haben, hinten auf dem Pickup-Truck, mit einem wiederholten Kopfschütteln, angesiedelt irgendwo zwischen Verzweiflung und Entschlossenheit, wie die Entscheidung, die in diesem Kopf wohl gerade getroffen wurde. Für die materielle Basis dieser Entscheidung braucht Regisseurin Mati Diop – als Darstellerin bekannt etwa aus Claire Denis’ tollem 35 Rum – nur ein paar trist-poetische Establishing Shots aus dem versmogten Dakar und den kurzen Einblick in einen Tumult im Büro: Die Löhne kommen jetzt schon drei Monaten nicht, aber der Angestellte kann für den Arbeiter nichts tun, weil er ja auch nur Arbeiter ist.
Ein Ehebett fängt Feuer

So schön und schlicht beginnt Atlantique. Schön bleibt er, schlicht nicht. Der Film verschreibt sich jetzt Ada, der Zurückgebliebenen, nicht nur ihrem Körper und ihren Handlungen, sondern vor allem ihren Fantasien, Ängsten, ihren Träumen und Albträumen. Zerrissen zwischen dem Kleid, das zu Beginn einmal den Bildkader füllt und von der nur wenige Tage entfernt liegenden Hochzeit mit dem reichen Omar (Babacar Sylla) kündet, und der Kette, die Suleiman ihr an diesem Nachmittag schenkt, hat sie sich eigentlich längst entschieden. Nämlich ihrem Herzen zu folgen und das mit der Ehe sein zu lassen oder wenigstens nicht ernst zu nehmen – obwohl die Aussicht auf ein Leben in der Villa, das sie ohnehin nur drei Monate im Jahr mit ihrem Mann teilen müsste, laut ihren partylustigen Freundinnen nicht das schlechteste Los ist. Aber was Ada nicht kann in diesem Film, und deswegen ist sie vielleicht seine Protagonistin, ist Performance, ist so tun, als ob. Omar bringt ihr aus Italien ein neues iPhone mit, aber nicht einmal vernünftig angucken kann sie ihn. In den Gläsern seiner teuren Sonnenbrille spiegelt sich das Meer.

Noch bevor man es sich als Zuschauer einrichten kann in der Kluft zwischen Wunsch und Wirklichkeit, zwischen Zwangsheirat und wahrer Liebe, nämlich noch in der Hochzeitsnacht brennt das Ehebett, anscheinend ohne Einwirkung von außen. Eine Freundin meint aber, Suleiman gesehen zu haben an diesem Abend, auch wenn das nicht sein kann. Ein Kommissar will den Fall lösen, erleidet aber mysteriöse Schwächeanfälle, und irgendwann bricht eine Gruppe Frauen mit nichts als Weiß in den Augäpfeln in eine Villa ein und fordert vom Besitzer den noch ausstehenden Lohn. Sonst werde sein Turm brennen. Nicht mehr lange, dann steht die unheimliche Girl Gang wie die jugendlichen Terroristen in Nocturama (2016) auf einem Hügel und blickt auf den Rauch über der Stadt.
Diffuse Träume

Man könnte also zusammenfassen, hier beginnt ein Film mit Sozialrealismus und Ausweglosigkeit und sucht die Flucht ins Übernatürliche: das Fantastische als dann eben doch letzter Ausweg aus dem Elend der anderen und aus unserem Voyeurismus. Aber das wäre nicht richtig. Einmal weil damit noch nichts gesagt wäre über Diops für einen Debütfilm erstaunliches Gespür für Dauer und Rhythmus, das tatsächlich manchmal an Claire Denis gemahnt; über die vollen, schön gebauten Einstellungen, in denen Farben und Mise en Scène ganz freundschaftlich um unsere Aufmerksamkeit im Bild rangeln; über Fatima Al Qadiris musikalischen Treibsand auf der Tonspur.

Und dann würde eine solche Zusammenfassung das Verhältnis von Film und Material als einen Zugriff des einen auf das andere denken. Dabei scheint hier doch nur all das notdürftig Film zu werden, was sich anschickt, in Adas Bewusstsein jene Leere zu füllen, die das Verlassenwerden herstellt. In diese Leere strömt, wenn das echte, harte Leben gerade nicht genug hergibt, nun einmal Diffuses: tradierte Mythen über die islamischen Geisterwesen Djinns, die den Film heimsuchen, Zündelspiele an der verhassten Zukunft, Rache- und Sexfantasien, ersehnte wie gefürchtete Nachrichten aus dem Jenseits oder aus Spanien, eine erträumte Rückkehr, wenn nicht lebendig, dann wenigstens tot. Atlantique zieht seine Kraft aus dem Unbewussten und der Ungewissheit der Zurückgelassenen. Wir fragen inzwischen ja manchmal, immerhin, was diejenigen träumen, die fliehen müssen. Dieser Film fragt, was diejenigen träumen müssen, die bleiben.
Der Film steht bis 08.06.2023 in der Arte-Mediathek.
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