Atlantide – Kritik

Venedig als LSD-Trip: In Atlantide folgt Yuri Ancarani ein paar hormongesteuerten Teenagern, taucht die Wasserstadt in Neonfarben und entführt die Sinne in ein rauschhaftes Kinoerlebnis.

Da ist dieser wahnsinnig schöne Nachthimmel. So 20 Minuten vor Schluss taucht er auf: Schwarze Wolken hängen über dem Meer, der Mond scheint durch sie hindurch, malt einen langen Lichtstreifen auf das Wasser. Kaum hat man angefangen zu staunen, da gewittert es auch noch hinter den Wolken, orangefarbene Blitze zucken über das Firmament, auf der Meeresoberfläche kräuseln sich ein paar sanfte Wellen, ein letzter Rest Tageslicht schimmert in dunklem Türkis.

Es ist bei Weitem nicht das einzige atemberaubende Bild in Yuri Ancaranis Atlantide. Ein andermal läuft etwas Motoröl ins Wasser und zerfließt zu regenbogenfarbenen Schlieren. Eine Drohne fliegt zu Orgelmusik über eine bewaldete Insel hinweg – die Bäume, das Meer und ein paar schwimmende Grashügel werden zu kontrastreichen, beinahe abstrakten Farbflächen. Und ehe wir eine Sexszene im Neonlicht beobachten, sehen wir in einer wunderbar dynamischen Jump-Cut-Sequenz eine junge Frau auf einem Boot völlig entrückt tanzen.

Ach ja, die Boote: Der dokufiktionale Plot von Atlantide dreht sich um ein paar Jugendliche in Venedig, die ihren Sommer damit verbringen, zu stampfenden Technobeats auf Rennbooten herumzucruisen, zu feiern und zu flirten. Im Mittelpunkt steht Daniele (Daniele Barison), ein wortkarger Einzelgänger, dem – sorry, aber ist so – die Dummheit aus den Augen guckt, der aber schon auch irgendwie eine coole Socke ist, wie er da minutenlang nur auf dem Hinterreifen durch die Nacht radelt und später eine Touristin aufgabelt, die eigentlich „way out of his league“ ist.

Erotik der Körper, Erotik der Maschinen

Die eigenwillige, oft aus extremen Winkeln filmende Kamera (Yuri Ancarani, Mauro Chiarello, Thomas Pilani) klebt förmlich an Daniele und den anderen jungen Körpern. Eher selten widmet sie sich den Frauen, stattdessen beobachtet sie – halb schwelgend, halb ironisch – die Inszenierungen von Männlichkeit: muskulöse Brustkörbe, raue Bartstoppeln, geschorene Köpfe, nächtliches Schattenboxen. In diesem thematischen Fokus ähnelt Atlantide Ancaranis vorherigem Film The Challenge (2016) – einer absurd-amüsanten Doku über steinreiche junge Scheiche in Katar, die mangels Nachtleben, Dating und Alkohol in ihrem religiös geprägten Heimatland nicht so recht wissen, wohin mit all der Zeit und dem Geld, und Letzteres deshalb unter anderem in domestizierte Geparden investieren, die sie dann im Lamborghini durch die Einöde kutschieren.

Anders als in The Challenge gesellt sich hier aber neben die Erotik junger Männerkörper noch eine Erotik der Maschinen: Wir sehen Daniele und einen Kumpel mit Hingabe (und nacktem Oberkörper) an Bootsmotoren schrauben. Bei einer Fluchtszene starren wir in Nahaufnahme auf ein langsam erigierendes Hydraulik-Rohr. Und oft ist die Kamera direkt am Boot befestigt, sodass man im Kinosaal jede Welle, jeden Sprung, ja die gesamte Kinetik der Raserei so zu spüren glaubt wie Körperbewegungen im Virtual-Reality-Porno.

Hypnotischer Bilderfilm

Doch letztlich sind die Boote ebenso nebensächlich wie Daniele und die anderen austauschbaren Figuren. Sie alle sind nur Vehikel für einen grandiosen LSD-Trip durch Venedig. Denn Ancarani driftet in den letzten 30 Minuten immer stärker in die Gewässer der Videokunst oder des Experimentalfilms ab: In diesem letzten Drittel entwickelt Atlantide einen geradezu rauschhaften Sog. Körper und Gebäude werden dermaßen in Neonfarben getaucht, dass die Aufnahmen beinahe wie Negative wirken. Zu sphärischen Klängen und stroboskopischem Geflacker gleiten die Motorboote durch die Kanäle, Untersichten verzerren die Hauswände ins Unendliche – und dann irgendwann kippt die Kamera um 90 Grad zur Seite, verfremdet so die ikonischen Brücken und verzerrt die konkreten Konturen der Stadt bis zur Abstraktion. Venedig wird während dieser immersiven Schlussminuten in Flächen, Formen, Farben, Spiegelungen, Licht und Schatten transformiert – und Atlantide verwandelt sich vom Film zum Erlebnis.

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