Arrhythmia – Kritik
Scheidungsantrag per SMS, schwindende Menschlichkeit im Notfalldienst. Boris Klehbnikov beobachtet in Arrythmia empört, wie Privat- und Berufsleben eines Notarztes ganz für sich außer Kontrolle geraten.

Die Arrhythmie verdankt ihre Existenz dem Rhythmus. Ausscherungen gibt es erst, wenn es etwas gibt, wovon man ausscheren kann; wenn es eine Ordnung gibt, die zerstört werden kann. Mag die titelgebende Arrhythmie im Singular daherkommen, es sind mindestens zwei Prozesse, deren Abläufe hier gestört sind und in der Figur Olegs (Aleksandr Yatsenko) aufgedröselt werden: ein privater, die Ehe, und ein beruflicher, die Arbeit als Notarzt. Dabei betrachtet Arrhythmia – ein Film, der von Ärzten wimmelt – diese Prozesse selbst wie ein Arzt, das heißt: in Bezug auf einen Zustand, zu dem es zurückzukehren, auf einen Rhythmus, den es wiederherzustellen gilt. Arrhythmia ist ein deprimierender Film, aber kein fatalistischer, denn in der Empörung liegt die Hoffnung: dass es so nicht sein darf, dass es anders sein muss.
Wenn nur noch die Kamera guckt

Es läuft also erstmal zuhause etwas schief. Ziemlich genau eine Viertelstunde braucht Regisseur Boris Khlebnikov, um in groben Zügen das Bild dieser Ehe zu zeichnen und sie aufs Spiel zu setzen: Katja (Irina Gorbacheva) sitzt im Garten abseits der Familienfeier und schreibt Oleg per SMS, dass sie die Scheidung will. Dieser klassischen Inszenierung von Kommunikationslosigkeit ist eine Fahrt vorausgegangen, die mühelos als Anklageschrift dienen könnte: Oleg wartet nicht auf der richtigen Straßenseite (er ist unzuverlässig), hat offensichtlich getrunken (unverantwortlich), kichert vor seinem Smartphone, während Katja fährt (unaufmerksam), und schüttet im Wagen den Billigrotwein aus dem Tetra Pack aus (unbeholfen).

Dass Arrhythmia dennoch reichlich Sympathie für seine Hauptfigur erzeugt – Katja ist fast schon Nebenfigur –, liegt daran, dass der Film zur Hälfte aus einer rehabilitierenden Gegendarstellung besteht, nämlich Oleg auf seinen Notfalleinsätzen folgt. Dort bringt er seinen mehr oder weniger dankbaren Patienten eine Wertschätzung entgegen, die der Beziehung mit Katja völlig abhanden gekommen ist. Die Kamera in Arrhythmia nimmt sich fast immer nur eine Person vor und hält sie ein wenig auf Abstand; lässt nicht den ganzen Körper ins Blickfeld, aber mehr als nur den Kopf. Wenn Oleg im Einsatz ist, ahnen wir seinen Blick auf den Patienten, ahnen die Eintracht zwischen der Kamera und seinem Blick auf all diese Körper, derer er sich annimmt, die sterbenden wie die hypochondrischen gleichermaßen. Im Privaten hält es die Kamera ähnlich, gliedert das Bild in einzelne Menschen; wenn sie auf Katja guckt, fühlen wir aber, dass Oleg nicht mitguckt.
Weggucken als Anweisung

Gucken, nicht gucken: Letztendlich geht es in beiden Arrhythmien um dasselbe. Im Privaten bangt Katja darum, dass Oleg sie eines Blickes würdigt. Die anfängliche SMS ist offensichtlich kein Scheidungsantrag, sondern ein „Guck mich an“, was sich auch in dem Platz bemerkbar macht, den diese Szene innerhalb der Dramaturgie dieses Films annimmt: ein Nicht-Wendepunkt. Nichts ändert sich im Leben von Katja und Oleg, abgesehen davon, dass Oleg fortan auf einer aufblasbaren Matratze in der Küche schläft. Im Beruflichen ringt Oleg mit Strukturen, unter denen – so die Floskel – man den Menschen nicht mehr sieht. Die Entmenschlichung der ohnehin schwierigen Notfalleinsätze tritt in Gestalt eines neuen Leiters (Maxim Lagashkin) auf, der vom Schreibtisch aus – die Inszenierung nimmt das Bild ernst – den Praktikern mehr Effizienz vorschreibt, das heißt, weniger Menschlichkeit, bis hin zu der aufschlussreichen Aussage, man müsse einfach dafür sorgen, dass „unter anderer Aufsicht“ gestorben werde.

Dass Khlebnikov Olegs Leben mit gleich zwei Konflikten belastet und sie filmisch parallelstellt, lädt natürlich dazu ein, sich über die Verbindung beider Konflikte Gedanken zu machen, über die Verflechtungen gesellschaftlicher und privater Dysfunktionen und die Richtung, in der sie verlaufen. Rieselt die Verachtung einer Politik, die an Menschleben Geld sparen möchte, in Liebesbeziehungen hinunter? Hat die Verachtung einer solchen Politik überhaupt irgendetwas gemein mit der Verachtung eines Menschen, der seinem Partner die Aufmerksamkeit entzieht? Zerstören schlechte Arbeitsbedingungen Beziehungen? Geht es hier letztlich um eine einzige, um die titelgebende Arrhythmie? Wie die Natur eines Problems definiert wird, formt maßgeblich den Raum möglicher Lösungen. Khlebnikovs suggestives Ende ist wohl auch ein Hinweis darauf, aus welcher Richtung Hoffnung zu erwarten ist.
Neue Kritiken

Mein 20. Jahrhundert

Caught Stealing

Wenn der Herbst naht

In die Sonne schauen
Trailer zu „Arrhythmia“

Trailer ansehen (1)
Bilder




zur Galerie (15 Bilder)
Neue Trailer
Kommentare
Es gibt bisher noch keine Kommentare.