Are You Lonesome Tonight? – Kritik

Ein unfallflüchtiger Fahrer nistet sich im Leben der Witwe seines Opfers ein – und wird allmählich zum Hauptdarsteller eines Thrillers. Are You Lonesome Tonight? wechselt Form und Look wie ein Chamäleon, Garstigkeit und Melancholie wechseln sich beständig ab.

Eine knappe Parallelmontage: Hier Xue Ming (Eddie Peng), der ein Streichholz in seiner Hand dreht und es möglichst weit abbrennen lässt, bis die Flamme zu schmerzhaft für die Finger wird. Dort der große Zeh Liangs (Sylvia Chang), der durch ein Loch in der Socke herausguckt und schlicht in den Rest des Stoffes eingerollt wird. Es handelt sich lediglich um einen flüchtigen Moment, der aber doch die komplette Charakterisierung der Hauptfiguren von Wen Shipeis Debütfilm Are You Lonesome Tonight? bereithält. Xue Ming ist eben jemand, der mit dem Feuer spielt, während Liang die Dinge hinnimmt und so pragmatisch wie kraftsparend angeht.

Möglichkeit einer Erlösung

Verbunden sind die beiden dadurch, dass Xue Ming Liangs Ehemann überfahren und Fahrerflucht begangen hat. Liang muss sich daraufhin mit der Freiheit eines leeren Hauses arrangieren, mit aufdringlichen Nachbarn, die ihre Kondolenz aufdrängen, und mit Schergen, die die Spielschulden ihres verblichenen Mannes eintreiben wollen. Und mit einer plötzlich defekten Klimaanlage. Xue Ming hingegen ziehen Schuldgefühle an den Ort des Geschehens und zu den Folgen seiner Tat zurück. Dadurch entdeckt er zum einen immer mehr über den so einfach scheinenden Unfall. Zunehmend wird er dabei zum Hauptdarsteller eines Thrillers – inklusive verlorenem Geldkoffer, Schießerei und Auftragsmörder. Zum anderen nistet er sich als Installateur von Klimaanlagen im Leben von Liang ein. Von seiner Tat besessen, beobachtet er das indirekte Opfer und sucht nach der Möglichkeit einer Erlösung.

Are You Lonesome Tonight? ändert bei all dem seine Form wie ein Chamäleon. Per Off-Kommentar erklärt Xue Ming zu Beginn, retrospektiv das Kommende betrachtend, dass er im Gefängnis mehrmals gefragt wurde, was ihn dorthin gebracht hat. Mit jeder Antwort habe sich das Geschehene für ihn verändert, bis er irgendwann kaum noch ein Verhältnis dazu gehabt habe. Und so schaut auch der Film mit ihm wiederholt auf den Unfall und die Fahrerflucht zurück, wobei immer wieder neue Aspekte hinzukommen. Wie bei einer Zwiebel offenbart sich mit jeder Wiederkehr eine neue Schicht. So zeigt sich, dass der Überfahrene gar nicht tot auf der Straße liegen blieb. Dass bei seiner Entsorgung wichtige Schlüssel verloren gingen. Dass zwei Kugeln in ihm landeten.

Wong-Kar-Wai-Vibes, Kaurismäki-Tristesse

Aus dem Schuld-und-Sühne-Drama wird zwischenzeitlich eine zärtliche Geschichte über Verlorenheit und die (Un-)Möglichkeit von Nähe, nur um schließlich in besagtem Thriller zu münden. Garstigkeit und Melancholie, Extro- und Introvertiertheit wechseln sich beständig ab. Der Off-Kommentar wie die sprunghafte Zeitfolge voller Ellipsen haben starke Wong-Kar-Wai-Vibes. Zwischendrin befinden wir uns aber auch in einem Café, in dem gerade eine Band spielt. Die dort zelebrierte, absurde Tristesse hat etwas von den Filmen Aki Kaurismäkis. Und so unvermittelt sich der Film dann einem klaren, treibenden Suspensekino verschreibt, so abrupt wechselt der entsprechende Thriller während einer Verfolgungsjagd in die Perspektive eines Polizisten, wo sonst fast alles von Xue Mings Sicht bestimmt ist.

Das Chamäleonartige des Films findet sich aber tatsächlich am ehesten in seiner Oberfläche. So sind die Nächte gern via Color Grading in Orange-Grün getaucht, während der Tag natürliche Farben behalten darf. Die Verlorenheit der Charaktere wird von einem Sepiaton begleitet. Nicht aufdringlich, aber doch spürbar ändert sich das Aussehen beständig. Das Fiebrige des Unfalls und dessen Untersuchung sind entsprechend von fragmentierten Einstellungen beherrscht, während die Suche nach Sinn die Figuren in Weite und Leere oder in Menschenmengen gefangen hält.

Lob der Freiheit, ohne in Willkür zu zerfallen

Auf allen Kanälen, nicht sonderlich dezent, aber auch nicht aggressiv, kommuniziert Are You Lonesome Tonight?, wie flexibel und weitreichend Identität sein kann. Dass Personen, Gefühle, Lebenssituationen und Filme nicht auf verkürzte Konzepte und dominante Aspekte verengt sein müssen. Das erzählerische und optische Wechselbad ist ein Lob der Freiheit, ohne dabei in Willkür zu zerfallen.

Diese Freiheit vergrößert die assoziativen Anknüpfungspunkte an die Figuren und ihre Schicksale. Was im Film vor allem bedeutet, dass sich immer mehr Schuld und Reue anhäuft, dass sich Lösungen einfach nicht auftun wollen, dass all das Negative mitunter aber auch – auf Umwegen – seine trostvollen Potenziale hat. Aus der verzweifelten Liang wird mit der Zeit eben auch eine Frau, die von einer unglücklichen Ehe mit einem unsympathischen Ehemann befreit ist.

Was Are You Lonesome Tonight? selbst ein wenig tragisch macht. Denn wie anfangs gesagt, sind Xue Ming und Liang ziemlich leicht zu charakterisieren. Eine wie nebenbei eingeflochtene Parallelmontage reicht aus, um sie und ihre Identität auf einen Slogan festzulegen. Die Schauspielerin Sylvia Chang muss auf ihr charismatisches, einnehmendes Lächeln, das Unsicherheit und Stärke zu verbinden weiß, in diesem Film durchgehend verzichten. Ihre Figur ist eben traurig und verloren. Während Eddie Peng eben vor sich hin brütet … weshalb wenigstens das Ende, wenn Xue Ming rennt und lacht und sich ganz untypisch benimmt, nicht in seiner moralischen Botschaft untergeht, sondern den Figuren doch noch so etwas wie eine Befreiung von sich selbst schenkt.

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