April – Kritik

Neu auf Mubi: Mit strengem Formbewusstsein folgt Dea Kulumbegashvili (Beginning) einer Gynäkologin, die in der georgischen Provinz heimlich Abtreibungen durchführt. April verbindet dabei Naturgewalten mit patriarchaler Gewalt, und denkt den Kinobesuch als körperliche Erfahrung mit.

Aus der Ferne ziehen Wolkenmassen herüber, türmen sich auf und entladen sich tosend über der weitläufigen, rauen Landschaft. Es blitzt erst, dann donnert es. Regenfälle peitschen erbarmungslos auf die Erde, nein: direkt in den Kinosaal, so markerschütternd vibriert es in der Dunkelheit, deren Geborgenheitsversprechen ein Sturm derart biblischen Formats einfach wegfegt. Auf der Leinwand zittern Gräser hilflos am Boden, daneben in den endlosen Ackerfurchen brodelt eine matschige Ursuppe. Irgendwann ist es vorüber. Was sich zusammengebraut hat, hat sich entladen, so (oder so ähnlich) will es der Energieerhaltungssatz.

Gedämpfter Klagegesang

Die Filme von Dea Kulumbegashvili sind einerseits tief verwurzelt in den schroffen Weiten Ostgeorgiens, wo sie aufwuchs und – solange die politische Situation im Land es zuließ – ihre Filme drehte. Andererseits unterwirft Kulumbegashvili diese schwer zu bändigenden Landschaften eigenen formalen Gesetzmäßigkeiten, die weder das Erhabene noch das Schöne der Naturgewalten ganz verleugnen, aber doch anders zuschneiden und gesellschaftlich perspektivieren – und sobald es gesellschaftlich wird, verschiebt sich der Akzent endgültig von der Natur zur Gewalt.

Wie schon in Beginning (2020) geht es in April um eine Frau, die sich gegen erdrückende Widerstände in einem patriarchal geronnenen System behaupten muss. Was sich in diesem Film – dramaturgisch und insbesondere atmosphärisch – zusammenbraut, entlädt sich gerade nicht, sondern verharrt in einem Zustand äußerster Anspannung. Der Sturm bildet davon nur scheinbar eine Ausnahme. Er ereignet sich etwa zur Mitte des Films; seine potenziell reinigende Wirkung bleibt aus, weil die davor geschaltete Szene einer Abtreibung selbst durch die lautesten Donnerschläge hindurch nachhallt.

Die gut zehnminütige statische Einstellung fixiert den Unterleib der minderjährigen Patientin, die rücklings auf einem Küchentisch liegt. Der Eingriff wird nicht explizit gezeigt: Ein Schenkel des Mädchens verdeckt den Blick auf das, was das metallische Klirren der OP-Instrumente auditiv andeutet. Im Hintergrund schwer lokalisierbares Hundegebell, das den ganzen Film begleitet und in dieser Szene mit dem menschlichen Wimmern der gehörlosen Patientin zu einem gedämpften Klagegesang verschwimmt, während diese Patientin ihre Finger vor Schmerzen in die Tischkante und in den Unterarm der beistehenden Schwester krallt. „Sie ist zu verkrampft, sie muss sich entspannen“, sagt Nina, die den Eingriff vornimmt und – wie der Film – sehr genau weiß, dass das mit der Entspannung leichter gesagt als getan ist.

Autos wie Tennisbälle

Nina (Ia Sukhitashvili, die auch in Beginning die Hauptrolle spielte) arbeitet als Gynäkologin in einer Klinik auf dem Land. Die nicht zuletzt von der einflussreichen Kirche geschürte Erwartung an georgische Frauen besteht darin, möglichst früh möglichst viele Kinder zu bekommen. In Beratungsgesprächen klärt Nina daher junge, oft verängstigte Frauen über die Pille auf; in den umliegenden Dörfern führt sie heimlich Abtreibungen durch. Sie tut das pflichtbewusst und mit stoischer Würde, aus einer Notwendigkeit heraus, die wenig Heroisches an sich hat: „Wenn ich es nicht tun würde, dann jemand anderes.“

Dass sie es tut, spricht sich im Dorf schnell rum. Eine der ersten Szenen zeigt eine Geburt, diesmal wird sehr direkt von oben draufgehalten: Der Kopf kommt, die Frau atmet schwer, ihr Baby atmet nicht. Weil die Schwangerschaft nicht registriert war, konnte eine Lungenfehlfunktion nicht rechtzeitig erkannt werden, so Ninas Rechtfertigung. Der trauernde Vater macht sie dennoch verantwortlich, spuckt ihr ins Gesicht. Er weiß um die illegalen Abtreibungen und droht mit juristischen Konsequenzen. April ist ein Warten darauf, dass diese Konsequenzen eintreten. Während draußen der Regen prasselt, geben drinnen tickende Uhren den Takt vor.

Und aus dem Takt lässt sich Nina fürs Erste nicht bringen, sie spult ihre täglichen Routinen ab, zu denen auch der spontane und ziemlich riskante Gelegenheitssex mit fremden Männern gehört, die sie nach der Arbeit mit dem Auto aufsammelt. Wenn sie dann über die Landstraßen fährt, säumen kaukasische Bergketten den dämmerungsfarbenen Horizont und die entgegenkommenden Autos rauschen ähnlich rasant an der Kamera vorbei wie die Tennisbälle aus Challengers (2024). Sicher ein schiefer Vergleich, der sich mir vielleicht nur aufdrängt, weil Luca Guadagnino April mitproduziert hat. Anders als in Challengers hat das Begehren in April nichts Lustvolles, und es gibt Andeutungen, dass Ninas zwanghafte Neigungen auf ein traumatisches Ereignis zurückgehen, das jedoch nie ausbuchstabiert wird. Falls es etwas gibt, was die beiden Filme verbindet, dann wohl der feste Glaube an einen Formalismus, der den Kinobesuch als körperliche Erfahrung in seinen Bildern und Tönen mitdenkt.

Kamera mit Eigenleben

Kulumbegashvili arbeitet erneut mit dem belarussischen Kameramann Arseni Khachaturan zusammen (der übrigens auch an Guadagninos Bones and All (2022) mitgewirkt hat). Strebten die im strengen Academy-Format kadrierten Bilder von Beginning noch stark in Richtung Tableau und grenzten ob dieser aufgesetzten Strenge zuweilen an Miserabilismus, verhält es sich in April etwas anders. Nach wie vor mangelt es zwar nicht an statischen Einstellungen, die genau wissen, was sie zeigen und was sie nicht zeigen wollen; die Schnittfrequenz tendiert weniger zu Challengers als zu dem, was der ordnungsliebende Flügel der Filmkritik wohl in jener Schublade verstauen würde, die wegen erheblicher Abnutzungsspuren nur noch unleserlich mit den Worten „Slow Cinema“ beschriftet ist; und auch das Format ist wieder so eng zugeschnitten, dass die Ränder des Bildes ziemlich effektiv auf die von Sexismus und Bevormundung umrandete weibliche Erfahrung in der Welt verweisen.

In April wird dieser selbstsichere ästhetische Zugriff allerdings mehrfach gelockert und wirkt dadurch weniger manieriert als in Beginning. Die statischen Einstellungen setzt Khachaturan ein, um die Innenräume der Klinik zu filmen; entsprechend steril zieht er die Symmetrieachsen, sodass sie die asymmetrischen Kräfteverhältnisse um Nina freilegen. Bei Außenaufnahmen ist die Kamera hingegen an Autos montiert und blickt in die Nacht. Zeitweise scheint sich das mit Ninas Blick zu decken, ihr Atmen (oder ist es die Kamera, die atmet?) rhythmisiert die Tonspur. Aber dann entwickelt sie für kurze Momente ein zittriges Eigenleben, schwenkt um und verliert sich ein wenig, als wäre sie Ninas körperlose Begleiterin oder Komplizin, permanent an ihrer Seite, aber doch nach eigenen Antrieben handelnd. Eine bemerkenswerte Sequenz führt auf einen Viehmarkt bei Nacht, die zottigen Tiere stehen im schmatzenden Matsch und starren entgeistert zurück.

Greisenhaftes Neugeborenes

Wer das nicht schon ungeheuerlich genug findet, bekommt von Kulumbegashvili ein fleischiges, gepeinigtes Wesen präsentiert, das einem Horrorfilm entlehnt sein könnte, aber statt Furcht eher Mitleid erregt. Von wulstigen Hautfalten überzogen, durchaus als weiblich identifizierbar, aber ohne erkennbares Gesicht, wandelt es in den ersten und letzten Bildern des Films ziel- und schutzlos wie ein greisenhaftes Neugeborenes durch mooriges Terrain, ausgestoßen und doch Teil der Welt, einer Welt, die in diesen Momenten verstörend fragil wird.

Doch verstört nicht auch der so gar nicht fragile, sondern ziemlich berechnende Gestus, mit dem diese entrückten Bilder an ausgesuchten Stellen vor die Linse gerückt werden? Ist das archaische Unbehagen, das aus diesen Bildern spricht, nicht ein bisschen zu eloquent? Während weite Teile des Films einem eindrücklichen Realismus verpflichtet sind, der seine Kraft aus der Erdung in Naturimmersion und weiblicher Körpererfahrung bezieht, fordern die rätselhaften Einschübe, in denen das Fleischwesen auftritt, eine Lesbarkeit ein, die den widerständig wankenden Grundmodus (der Kamera, der Hauptfigur) symbolisch überlädt. Oder ist dieser Überschuss an Ambition genau richtig für einen anprangernden Film über den Kampf um Autonomie?

Aus dem augenlosen Blick des Fleischwesens lese ich jedenfalls auch einen Appell an mich heraus: Schau jetzt besonders genau hin und denk mal drüber nach, wie das alles zusammenpasst. Leerstellen hin oder her – irgendwie passt das ja auch alles zusammen, wenn die Handlung die letzten Daumenschrauben anzieht, wenn der Regen zurückkehrt und das Hundegebell, das sowieso niemals weg war, im Hintergrund anschwillt. Dann fällt auf, dass auch die Atemgeräusche immer noch da sind, und dass dieses flache Atmen kein befreites Luftholen ist, weil das in diesem gewaltigen Film nicht sein darf. Und dass es sich auch nicht befreiter atmen lässt, wenn man dann nach dem Film an die Proteste in Georgien denkt, wo noch ganz andere Freiheiten niedergeknüppelt werden und im autoritären Matsch zu versinken drohen.

Den Film kann man bei Mubi streamen. 

Der Text erschien ursprünglich am 16.12.2024.

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