Apollo 10 1/2: Eine Kindheit im Weltraumzeitalter – Kritik
Netflix: Ein Spaziergang durch einen 60er-Jahre-Erinnerungspark, moderiert von Jack Black. Doch Richard Linklaters Animationsfilm ist trickreich und ambivalent genug, um nicht zum Nostalgieprogramm zu werden.

Man muss etwas nicht zwangsläufig miterlebt haben, um sich daran zu erinnern: Diese zentrale Pointe des Films kann ich bestätigen. Anders als Richard Linklaters Alter Ego Stan habe ich nicht nur die Mondlandung verschlafen, sondern die gesamten 1960er Jahre verpasst, und doch kommt mir das Zeitgemälde sehr vertraut vor, das Apollo 10 ½: Eine Kindheit im Weltraumzeitalter (Apollo 10 ½: A Space Age Childhood) entwirft.
Illustration eines Zeitalters

Der Film illustriert die sehr spezifische Kindheitserinnerung eines weißen Houstoner Mittelschichtsjungen zur Zeit des Apollo-Raumfahrtprogramms und bettet sie zugleich ein in die fast kanonisch wirkende Illustration eines Zeitalters, wie es ins (pop)kulturelle Gedächtnis der westlichen Hemisphäre eingegangen ist mit seinen Farben, seiner Musik, seinen Fernsehserien und Flipperautomaten, seinen Ängsten und seinen Träumen. Die Utopie einer den Weltraum besiedelnden einen Menschheit ist in diesem Panorama ebenso präsent wie die Angst vorm Atomkrieg zwischen den Supermächten, düstere Zukunftsprognosen von Massenarmut und Umweltzerstörung oder die von der Großmutter des Helden dargebotenen Verschwörungstheorien übers Kennedy-Attentat.
Dass es sehr wohl eine Frage der Perspektive ist – des Alters, der Herkunft, der (pop)kulturellen Prägung usw. –, inwiefern man sich in diesem Erinnerungsraum zwischen 2001 und Lucy in the Sky with Diamonds, Janis Joplin und den Monkees einrichten kann oder auch nur gewillt dazu ist, ist ein berechtigter Einwand, und auf den ersten Blick wäre es sicher ein Leichtes, diesen Film als Boomer-Nostalgieprogramm abzuhaken, der einem nichts oder das Falsche sagt. Doch das würde Apollo 10 ½ nicht gerecht. Zum einen ist er sich durchaus bewusst, dass es auch andere Perspektiven auf diese Zeit gibt, und sei es in Form von – sehr zum Unmut von Stans Vater – im elterlichen TV zu Wort kommenden Stimmen, die die im Zentrum des Films stehende Mondlandungseuphorie als ein special interest des begüterteren weißen Teils Amerikas abtun. Zum anderen erweist sich Richard Linklaters Erzählansatz, was die Zuverlässigkeit und die Gültigkeit von Erinnerung betrifft, dann doch als ausreichend zögerlich, dank eingangs erwähnter, am Ende offen ausgesprochener Pointe auch durchaus als trickreich.
Fantasie und Deckerinnerung

Der Anfang verspricht noch Abenteuerliches: Ein paar NASA-Leute rekrutieren den zehneinhalbjährigen Stan im Frühjahr ’69 direkt von seinem Schulhof in Houston für eine geheime Mission. Weil die Raumfähre für die im Sommer anstehende Mondlandung versehentlich zu klein konstruiert wurde, brauchen sie den Jungen für einen geheimen Probeflug. Flugs steckt man ihn in eine Zentrifuge, um seinen Körper auf die Schwerelosigkeit vorzubereiten – doch beim jäh aus ihm herausbrechenden Kotzschwall friert das Bild ein, Jack Blacks Voice-over setzt alles auf Anfang, und der Film springt zunächst ein paar Jahre zurück. Und lässt sich nun viel, sehr viel Zeit, bis er wieder auf diesen Moment zurückkommt. Dann wird, auch wenn diese Geschichte auf Plotebene durchaus als real präsentiert wird, kein Zweifel mehr daran bestehen, dass es sich um die Fantasie und Deckerinnerung eines Kindes handelt, das sich in die Rolle der bewunderten Weltraumhelden imaginiert. Eines Jungen, dessen größter Gram es ist, dass sein in der Tat bei der NASA arbeitender Vater dort nur ein langweiliger Bürohengst ist.
Für einen sehr großen Teil seiner Spielzeit dokumentiert der Film, für den, wie in Linklaters früheren Werken Waking Life (2002) und A Scanner Darkly (2006), Spielszenen mittels Rotoskopie übermalt wurden, ganz einfach detailverliebt, farbenfroh und weitgehend plotlos das Leben seines Protagonisten und Ich-Erzählers. Dabei wird Apollo 10 ½ zugleich Porträt einer kinderreichen Familie – Stan ist das jüngste von sechs Geschwistern – und Soziogramm eines aufblühenden Vororts von Houston, eines im Kleinen wie im Großen pragmatisch organisierten Gemeinwesens, in dem jeder seine Rolle und seine Aufgabe hat. Eine Welt, in der immer die Sonne scheint, es reichlich Spielwiesen und Wunderwelten gibt und in der die Autos vor sich auf die Straße legenden Kleinkindern noch rechtzeitig bremsen. Aber auch eine, in der Erwachsene noch nichts dabei finden, Kinder – nötigenfalls und einvernehmlich auch die Kinder der Nachbarn – körperlich zu züchtigen oder in der man gegenüber Gefahren des Alltags wie Insektiziden oder überchlortem Schwimmbadwasser noch haarsträubend unbekümmert ist. Und nicht zuletzt eine Welt, in der Mittelschichtsfamilien Carepakete an vietnamesische Kinder schicken, deren Häuser gerade von der US-Armee zerbombt werden.
Themenpark mit Schattenseiten

Dass, abgesehen von einem fummelnden Paar im Autokino, einem Stapel vom Bruder versteckter Playboy-Hefte und recht unschuldigen Popstar-Schwärmereien der Schwestern Sexualität und pubertäres Begehren in dem Coming-of-Age-Setting praktisch nicht vorkommen, trägt zum harmlos erscheinenden Gewand eines Films bei, den man wenig aufregend oder angenehm unaufgeregt finden kann. Ein Film wie ein von Jack Black moderierter Spaziergang durch einen Themenpark, der an jeder Ecke ein „Genau so war es“-Gefühl zu erzeugen vermag – doch lässt Blacks stets wie zu Freunden sprechende, Zuversicht ausstrahlende Stimme leicht überhören, wie viel davon eben auch fragwürdig oder ziemlich furchtbar war. Apollo 10 ½ ist im Ton nicht schwelgerisch und im Inhalt nicht verklärend – er kommt vielmehr, typisch für den Regisseur, derart laid back daher, dass er einem die Schattenseiten seiner vordergründig entspannten Erzählwelt wie beiläufig unterjubeln kann.
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