Another Day, Another Man – Kritik
Sexploitation à la Wishman - Teil 3: Tischblumen in der ewigen Dämmerung. Doris Wishmans gedämpfter Roughie Another Day, Another Man.

„Roughies“ werden Filme einer Spielart des Sexploitationkinos genannt, die Mitte bis Ende der 1960er Jahre in den USA ihre Blütephase hatte – kurz bevor die dem offiziellen Kino lange vorenthaltenen genitalen Tatsachen endgültig in voller Pracht die Leinwände der Bahnhofskinos eroberten. Die roughies – fast ausnahmslos mit extrem niedrigem Budget, innerhalb von wenigen Tagen und zumeist ohne weitergehende Ansprüche oder auch nur basalen filmtechnischen Sachverstand heruntergekurbelte Streifen – sind filmhistorisch kaum erschlossen; und wenn man sich trotzdem in diese Richtung vorwagt, kann man auf einige der misogynsten (Olga’s House of Shame, 1964) oder auch in anderen Hinsichten widerwärtigsten (Love Camp 7, 1969) Filme aller Zeiten stoßen. Freilich gibt schon die paradoxe Genrebezeichnung einen Hinweis darauf, dass man in einigen roughies auch Sensationen anderer Art ausfindig machen kann; versieht sie doch das bereits lautlich grindige, knallharte „rough“ mit einem verniedlichenden Suffix. Es muss also auch eine zärtliche Seite des roughie geben. Entdecken kann man sie in den Filmen von Doris Wishman, der größten Künstlerin des amerikanischen Sexploitationkinos.
Eine Unabhängigkeitserklärung von der Realität

Zärtlich sind Wishmans Filme, und vor allem sonderbar, sie spielen in einer Welt, die ganz und gar ihre eigene ist. In Another Day, Another Man ist schon die erste Szene eine Art Unabhängigkeitserklärung von Realität und Realismus. Steve, ein junger Mann, ruft einer Bekannten zu: „Ann!“. Eine Blondine antwortet, auf einer Brücke stehend: „Hi“”. Beide sprechen im Alltagstonfall, als stünden sie direkt nebeneinander. Der nächste Schnitt offenbart, dass noch gut hundert Meter zwischen den beiden liegen, sie sich also niemals gegenseitig hören, vermutlich nicht einmal hätten erkennen können. Es gibt nur eine Erklärung: Wishmans Montage selbst hat die beiden zueinander finden lassen, bietet ihnen Zuflucht in einer genuinen Kinointimität.
Die beiden haben sich verabredet für ein Date im New Yorker Central Park. Während des folgenden verliebten Gesprächs schneidet Wishman immer wieder unvermittelt weg von den Figuren, auf Ansichten von Teichen, von Tieren, manchmal auf die Füße der Sprechenden. Dazu flüssige, flockig-repetitive Jazz-Musik. Vieles, was diese Szene sonderbar macht, hat mit den Produktionsbedingungen dieser Art von Kino zu tun. Wie alle Filme Wishmans dieser Phase ist Another Day, Another Man ohne Originalton gedreht. Die Dialoge werden manchmal ganz ausgelassen, manchmal durch erläuternde Voice-Over ersetzt; und wenn die Szenen doch nachsynchronisiert werden, sind sie oft so inszeniert, dass die jeweils sprechende Figur entweder nicht im Bild ist (weil zum Beispiel auf einen Ententeich geschnitten wird) oder gerade den Kopf von der Kamera wegdreht. Alltagsgeräusche sind komplett aus dem Film verbannt – stattdessen ist fast durchweg Easy-Listening-Dosenmusik zu hören.
Alles kann zum Fetisch werden

Vielleicht muss man einige Wishman-Filme hintereinander sehen, um auf den Gedanken zu kommen, dass diese Beschränkungen den Filmen nicht schaden, sondern nützen; weil sie ihnen einen bezaubernden Rhythmus aufdrängen, einen Rhythmus, der von den Bildern, nicht von der Geschichte aus gedacht ist (manchmal könnte man fast sagen: der explizit gegen die Geschichte, vor allem gegen die Dialoge gedacht ist). Wunderschön fotografiert sind die Filme (zumindest die der späten 1960er, die späteren farbigen Arbeiten sind problematischer), in kontrastarmem Schwarz-Weiß, in Wishmans Welt gibt es weder echte Sonne noch echten Schatten, nur ewige Dämmerung. Another Day, Another Man ist erotisch, aber auf eine fast asexuelle Art. Selbst wenn sich die Kamera regelrecht auf Dekolletés schmeißt, folgt sie keinem voyeuristischen Impuls. Das Begehren, das den Film gleichwohl fest im Griff hat, richtet sich nicht auf die normalerweise verborgenen Letztobjekte der Pornografie (tatsächlich sind nicht einmal nackte Frauenbrüste zu sehen), es bleibt seltsam substanzlos, immer schon abgelenkt. Buchstäblich alles kann zum Fetisch werden.

Andererseits schränkt Wishman die Auswahl an potenziellen Fetischobjekten künstlich ein. Außenszenen, wie am Anfang im Park, sind selten, hauptsächlich spielen die Filme in Innenräumen, die keinerlei Spuren gelebten Lebens erhalten. Die Mülleimer, Tischblumen, Tischdecken und Wanddekorationen, auf die Wishman mit Vorliebe schneidet, während der Gesprächs- genauso wie während der Sex-, beziehungsweise häufiger Strip- und Tanzszenen, dienen gerade nicht als Alltagskolorit; ganz im Gegenteil verwandelt die Kamera diese Objekte in unheimliche Präsenzen, die sich neben (oder wiederum: gegen) den Alltag stellen – in Another Day, Another Man gilt das vor allem für das Bild eines Clowns, das einem deutlich länger im Gedächtnis bleiben dürfte als jedes der Schauspielergesichter.
„Whore!“

Eine Handlung im engeren Sinne hat der Film kaum, trotzdem erzählt er wie nebenbei ganze Lebensläufe: Tess war in die Großstadt gezogen, um Karriere zu machen, landete aber in den Fängen des Zuhälters Bert. Der kommentiert: „One day I went to the bus terminal. I noticed a young chick coming out.“ Ihr Freund aus der Heimat, ein Bauernsohn, sucht sie auf, um ihr einen Heiratsantrag zu machen. Erst verheimlicht sie ihre neue Profession, die beiden sitzen auf dem Sofa, bis sie einen Telefonanruf erhält. „Tess didn’t realize her voice would carry and John would hear her conversation. Well, he did hear it.“ John ballt die Faust in Großaufnahme, sein eh schon straffes Gesicht spannt sich weiter an, als sie sich zu rechtfertigen sucht, stößt er sie von sich weg, schließlich bricht als einziges Wort, das er im ganzen Film ausspricht, aus ihm heraus: „Whore!“

Von außen sehen alle Wishman-Filme gleich aus, hat man ihre Welt einmal betreten, sind alle höchst verschieden. Another Day, Another Man ist einer ihrer gedämpfteren Filme, einer, der Bewegung nur vortäuscht, durch Perspektivwechsel, Zeitsprünge, abrupt auftauchende und wieder verschwindende Nebenfiguren. Eigentlich ist alles von Anfang an entschieden, die Frauen sind Bert bereits verfallen, ob sie es schon wissen (Tess) oder erst herausfinden müssen (Ann). Für letztere wäre Steve ein Ausweg, aber der erkrankt nach der Eheschließung, plötzlich, grundlos und total: Er liegt einfach nur noch im Bett, steht nicht mehr auf. Ann muss zu Bert und geht bald anschaffen. Einer ihrer Monologe endet mit einem jener wunderbar windschiefen, poetischen Sätze, die in Wishmans Filmen immer wieder auftauchen: „Another day, another man. And every day is like another.“
Neue Kritiken

Mein 20. Jahrhundert

Caught Stealing

Wenn der Herbst naht

In die Sonne schauen
Trailer zu „Another Day, Another Man“

Trailer ansehen (1)
Bilder




zur Galerie (9 Bilder)
Neue Trailer
Kommentare
Es gibt bisher noch keine Kommentare.