Annette – Kritik

Ständig ist er nackt. Adam Driver spielt einen Macker, einen gefährlichen noch dazu – und imitiert Leos Carax, in einem Film, der parasitär wie ein Bandwurm alles aufsaugt. Und den man nicht mehr so leicht los wird.

In einer Szene überhöht Leos Carax die Frage der Nacktheit komödiantisch. Seine beiden Hauptfiguren schlafen miteinander und singen dabei, wie sehr sie sich lieben. Ostentativ verdeckt erst Marion Cotillard ihre Brüste, dann übernimmt das Adam Driver für sie, als er sich hinter sie legt. Ob er sie so umklammert, damit Facebook-konform keine Nippel zu sehen sind oder damit die Frau sich nicht zu sehr zeigen muss: Die Choreografie ist angelegt als Meta-Kommentar, nur eindeutig ist sie nicht. So verhält es sich mit diesem ganzen, unglaublich reichhaltigen Film: Annette legt ununterbrochen Fährten und hat doch tausend Gesichter.

Männliche Routinen

Marion Cotillard spielt Ann, eine Opernsängerin, die jeden Abend für ihr Publikum stirbt, blutverschmiert, selbstbewusst, schüchtern rettet sie es durch ihren Bühnentod. Adam Driver hat die dankbarere Rolle als Henry McHenry, ein Comedian, der sein Publikum provoziert und doch von ihm geliebt wird. Er tritt im dunkelgrünen Bademantel auf, nicht ganz nackt darunter, aber fast. Natürlich sind es Routinen, die er performt, von der toxischen Männlichkeit, vom zweifelnden, innerlich zerrissenen Kerl, der sich bitten lassen muss, dem Publikum zu geben, wonach es lechzt, es dann überstrapaziert, aber dafür kann er ja nichts. Weil Annette ein Musical ist und das sehr ernst nimmt, ist all dies explizit.

Der Film beginnt und endet (nach dem ersten Teil des Abspanns) mit einer Klammer, in der die Schöpfer der Songs, die Musiker der Band Sparks, Russell und Ron Mael, auftreten. Neben ihnen Leos Carax und seine Tochter Nastya, der er den Film widmet, und viele der Darsteller, egal ob kleine oder große Rolle – selbst die wichtigsten Gegenstände werden wie in einer Prozession dem Publikum zum Applaus nochmal entgegengehalten. Die Freude am gemeinsamen Spektakel, an der künstlerischen Erfindung und Darbietung, am Theater und am Kino, das sind die Marker, die den Film einfangen.

Hashtags sind nicht weit

Am Beginn von Annette singen sie vom Beginnen, am Ende vom Aufhören. Ein bisschen so kann man sich das auch sonst vorstellen. Die Meta-Kommentare sind so klar und naheliegend, dass sie sich reinbohren in die Geschichte und offenlegen, was wir vom Storytelling schon wissen. Die epische Liebesgeschichte, die am Anfang steht, ist genährt auch von den Medien, von Promi-Newsflashs, die etwas antiquiert über die Leinwand flirren, um von der öffentlichen Persona des Paares zu berichten und seinen Stationen, von der Hochzeit über die Schwangerschaft bis zur womöglich bevorstehenden Trennung.

Dass der Film fantastische Elemente hat, liegt in seinem Stil begründet: Die Feier des Erzählens ist eine Feier des Widerspruchs und des haptisch werdenden Unmöglichen. So kommt die Tochter des Showbusiness-Erfolgs-Duos zur Welt als eine Puppe, genau genommen als Marionette namens Annette. Das ist nur eine (frühe) Volte des Films, von denen es noch viele geben wird, die hier ausgespart bleiben können. Diese aber ist fundamental für das Verständnis eines Films, der Vaudeville und Oper, Theater, Musical und Kino, Fernsehen und öffentliche Diskurse zusammenbringt.

Es sind weniger Schichten oder Ebenen, die Leos Carax dabei übereinander legt, als die unzähligen Saugnäpfe eines Bandwurms, die sich überall bedienen und dabei doch eins ergeben: ein sattes, etwas beängstigendes Geschöpf von einem Film, der sich durch die Gegenwart und Vergangenheit der Medien bewegt, als könne alles davon ergiebiges Material sein. Motivisch zentral ist das Verhältnis des Mannes zu sich selbst, ein bisschen auch zu seiner Frau und später zu seiner Tochter. Hashtags sind nicht weit, und wollte man es vereinfachen, man könnte durchaus behaupten, Leos Carax habe einen Film zu #metoo gedreht. Besonders befremdlich, und das heißt auch mutig, ist dabei, dass Adam Driver im Verlauf des Films immer stärker der öffentlichen Persona von Leos Carax ähnelt.

Die großen Fragen der Mannheit

Spätestens nachdem Henry das erste Mal von der Polizei befragt wird – die ihn für unschuldig hält, obwohl er es nicht ist – und aus dem Präsidium herauskommt, beobachtet von den Menschen um ihn herum, und sich unter Hut und Sonnenbrille versteckt – er ist schuldig-befreit –, erkennt man an seinem Gang und seinem Blick das Vorbild. Am Schluss wird dann, in einer Geste der Vereindeutigung, sogar seine Frisur der des Maestros angeglichen. Wobei es nicht darum gehen soll, autobiografische Referenzen zu suchen und die Autofiktion auszumachen, denn das präsentiert uns Carax ohnehin auf dem Tablett. Wichtiger ist, wie sich der Film dazu verhält, dass seine Hauptfigur desavouiert wird, werden muss, obwohl er sich fast nur für sie interessiert.

Die Sphären, in die Annette vordringt, sind gigantisch. Wo schon Holy Motors (2012) zuvor eine große Bandbreite der erzählerischen Mittel beanspruchte, da ist Carax’ neuer Film mehr als nur aufgetunt. Das hat einerseits damit zu tun, dass formal alle Register gezogen werden, große Bühnen bespielt werden, in denen das Publikum selbst zum Chor wird, Reisen um die ganze Welt führen, eine Yacht auf hoher See in den größtmöglichen Sturm gerät und die heimischen vier Wände einem Luxus-Magazin entsprungen sein könnten. Andererseits könnten die Settings noch verrückter sein, sie würden sich nicht einschreiben ins Gedächtnis, wenn sie nicht Schauplatz wären für die großen Fragen der Mannheit. Liebe, Egoismus, Exzess, Selbsthass, Selbstmitleid, Vaterschaft.

Leos Carax ist auf der Höhe seiner Kunst, erzählt in Annette davon, wie sehr er ein Arschloch ist, ohne das zu relativieren oder zu entschuldigen. Das ist vertrackt, absurd, eigenartig. Vermutlich macht es auch nur ganz bedingt Sinn. Zum Glück ist es ganz einfach fantastisch.

Zu unserem Special zu den Filmen von Leos Carax geht es hier.

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