Anatomie eines Falls – Kritik
Sandra Hüller fulminant, Justine Triet so eloquent wie nuanciert: In Anatomie eines Falls wird die Wahrheitssuche in einem Mordprozess zur Psychoanalyse eines Ehe- und Familienlebens.

Am Anfang von Anatomie eines Fallsl (Anatomie d’une chute) steht ein Moment, herausgerissen aus dem Leben, dynamisch, multiperspektivisch, konfus und intensiv: Eine Studentin interviewt eine Schriftstellerin in deren Haus, die Schriftstellerin lehnt sich zurück, nach vorn, weicht den Fragen aus, will selbst welche stellen. In einem anderen Zimmer wäscht der sehgeschädigte 11-jährige Sohn seinen Hund und bereitet sich auf einen Spaziergang vor. Dann schwillt eine Instrumentalversion von 50 Cents „P.I.M.P.“ an, ohrenbetäubend, sie dringt von einer höheren Etage des Hauses bis ins Wohnzimmer, fängt immer wieder von vorne an, macht jedes Tonbandinterview unmöglich. Die Sache wird vertagt, die Schriftstellerin verabschiedet die Studentin, der Sohn geht spazieren. Das Haus steht auf einem Berg, überall Schnee. Kurz darauf finden Sohn und Hund den Ehemann auf dem Boden vor dem Haus, in einer Blutlache, er ist tot.
Im Zentrum ist das Wort

Die Schriftstellerin heißt Sandra, ist Deutsche und wird gespielt von Sandra Hüller. Mit ihrer Präsenz, ihrer Fremdsprachigkeit auf Englisch und Französisch, ihrer Fremdkörperhaftigkeit in der französischen Gesellschaft und ihrer wundersamen Attitüde ist sie das Zentrum dieses Films. Obwohl Anatomie eines Falls auch andere Standpunkte sucht, ist es ihre No-Nonsense-Haltung, die hineinzieht in den Bann dieses Gerichtsfilms. Mit einer unbekümmerten Direktheit, einem Drang dazu, die Dinge beim Namen zu nennen und in aller Komplexität zu schildern, stößt sie schon früh im Film auf Widerstand, als ihr befreundeter Anwalt Vincent (Swann Arlaud) versucht, sie auf ihre Aussage vorzubereiten. Denn Sandra ist nicht nur plötzlich Witwe, sondern steht alsbald auch unter Mordverdacht.
Wenn Sandra wiederholt die Szenen ihrer Ehe mit Samuel (Samuel Theis) schildert, klingt das mitunter, als wäre sie nicht angeklagt, sondern liefere nur Stoff für eine Psychoanalyse. Es ist nicht die einzige Verbindung zwischen Anatomie eines Falls und Triets letztem Film Sibyl. Obwohl dessen Erzählung rund um eine Psychologin, die ihren Patienten kündigt, um wieder an einem Roman zu arbeiten, und einer Schauspielerin, die sie obsessiv in ihr Leben und ihre Entscheidungen einbindet, ungleich extravaganter in den Figurenarrangements, Zufällen und Missgeschicken war, erkennt man auch hier Triets Liebe für das Romanhafte wieder. Die Regisseurin, die das Drehbuch gemeinsam mit ihrem Partner Arthur Harari verfasst hat, versucht nicht nur, das große Drama in aller Ausführlichkeit und mit vielen Nuancen zu erfassen, sondern räumt dem Wort einen zentralen Platz im epischen Erzählfluss ein. Was bei Sibyl oft vorgelesene Romanpassagen im Voice-over waren, sind in Anatomie eines Falls die Aussagen vor Gericht.
Plädoyer eines Kindes
Der Prozess selbst ist dabei jedoch keine schnelle Aneinanderreihung vieler Aussagen und Wendungen, sondern eher ein Hineinbohren in das Leben der Familie. Der Sohn Daniel, eindringlich und mit einer bewundernswerten Fragilität gespielt von Milo Machado Graner, ist einer von ganz wenigen Zeugen und wohnt dem restlichen Verfahren als Zuschauer bei. Als die Richterin ihn zum Selbstschutz vom Prozess ausschließen will, hält er ein flammendes Plädoyer dafür, dass das Ungehörte ihn nur zu obsessiven Recherchen führen würde. Überhaupt nimmt Daniel immer wieder die Position ein, die am stärksten mit der des Films korrespondiert: wissbegierig, emotional involviert, aber so klug, dass keine Festlegung in der Schuldfrage zu erkennen wäre.

Dass ausgerechnet der Film für ein Denken und Verstehen durch Sprache das richtige Mittel sein kann, schält sich nach und nach heraus, vor allem durch die unterschiedliche Markierung der Beweisstücke: Manche erscheinen als künstliche, ja fragwürdige Rekonstruktionen, eine zentrale Audioaufnahme wird übersetzt in einen ausagierten Flashback – und in einem entscheidenden Moment, für den es keine Bilder gibt, wird mit einem besonders eleganten Kniff eine Erinnerung ebenfalls als Szene ausagiert, bei der aber beide Figuren mit der Stimme des Aussagenden sprechen.
Ab auf die Couch
Wie verläuft ein Prozess, bei dem nicht das Gericht und dessen Maschinerie im Vordergrund steht, sondern die diskursive Suche nach Wahrheiten? Anatomie eines Falls ist dieser eigenartige Zwitter von einem Film, der gleichzeitig stark emotional und äußerst analytisch daherkommt, der vor allem ganz wenig eindeutige dramatische Prozess-Entwicklungen bereithält, die es einem ermöglichen würden, die Chancen auf Freispruch auszurechnen. Kein Auf und Ab macht den Film daher aus, sondern der fortwährende Sog in ein Familien- und Eheleben, das geprägt ist von Erfolgen und Misserfolgen, Neid, Eifersucht, Frustrationen und Liebe. Nach zweieinhalb Stunden könnte man sich gut zu Sandra und ihrem Hund auf die Couch begeben, es gäbe noch so viel zu erfragen.
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