An Elephant Sitting Still – Kritik

VoD: Ein Limbo namens Leben. Hu Bos An Elephant Sitting Still durchwandert mit einer hochbewegten Kamera eine chinesische Blocksiedlung und verbindet in fast jeder Einstellung schwer auszuhaltende Enge mit unüberbrückbarer Distanz.

„It’s not the end, it’s just the end of hope“: Ist das nicht ein schöner Kalauer für deprimierende Zeiten? Sprachlich gewitzt, aber todunglücklich. Die Songzeile aus dem letzten Low-Album könnte fast als Motto für Hu Bos An Elephant Sitting Still dienen – ein Film, der sich fast vier Stunden Zeit nimmt, von dem zwielichtigen Raum zu erzählen, in dem das Leben weitergeht, aber die Hoffnung bereits gestorben ist.

Die Geschichte einer Arschlochwerdung

Vier Menschen in einer aschgrauen Trabantenstadt vor Peking. Ein Junge, der in Schwierigkeiten ist. Ein Gangster, der ihn sucht. Ein Mädchen, das gedemütigt wird. Ein Alter, der ins Heim gesteckt werden soll. Es ist Winter, es ist kalt, alle sind schlecht drauf. Vor allem deshalb, weil die anderen schlecht drauf sind. L’enfer, c’est les autres: Elephant ist ein zutiefst existenzialistischer Film, der sich ganz und gar dem nackten Leben verschreibt, der keine Transzendenz, keinen spirituellen Ausweg zulassen will. Einmal nur macht der Junge – eben hat er seine Oma tot in ihrem Bett gefunden – pflichtschuldig drei buddhistische Gebetsbewegungen. Da geht eine Tür auf, und sein Onkel keift ihn an: Will er wieder Geld? Und schon ist der Hauch des Himmels verflogen. Denn ja, der Junge ist pleite. Weil ihm sein trinkender Vater die Ersparnisse gestohlen hat. So dreht sich die soziale Daumenschraube ein bisschen weiter zu.

Elephant erzählt das Coming-of-Age als Geschichte einer Arschlochwerdung. In einer Welt der Arschlöcher gibt es wenig andere Möglichkeiten. Die Jungen hassen die Alten, weil sie betrunkene Loser sind, und die Alten die Jungen, weil sie zu nichts taugen. Leicht lässt sich diese Zeichnung als Kommentar auf die chinesische Ellbogen-Gesellschaft lesen, als Zoom-in auf eine repräsentative Gruppe von Menschen in einer der vielen Retortenstädte des Landes, keine besonderen Personen, sondern Produkte allgegenwärtiger gegenseitiger Ausbeutung. Manchmal klingt da eine bittere Komik à la Curb Your Enthusiasm durch, eine Art fatalistisches Spiel mit Murphy’s Law, wo alles schiefgehen wird, was schiefgehen kann.

Eine Kamera wie ein Messer

Was Elephant Sitting Still zu einem sehr besonderen, sehr mitreißenden Film macht, ist der Fakt, dass Hu Bo dieses Gesellschaftsbild in erster Linie nicht erzählt, sondern ununterbrochen zeigt. Wir sind schon in dieser ineinander verbissenen Gesellschaft angekommen, bevor die Story überhaupt begonnen hat. Das hat in erster Linie mit einer ganz außergewöhnlichen Kamera (Chao Fan) zu tun, die gleichzeitig hochmobil und extrem wählerisch ist, einer Kamera, die unglaublich nahe an ihren Figuren bleibt, aber sie doch ständig voneinander trennt, die in jedem Kader den Eindruck fast unaushaltbarer Enge mit dem Gefühl unüberbrückbarer Distanzen verbindet. Eine Kamera wie ein Messer, die unentwegt Vorder- von Hintergrund, außen von innen, hell von dunkel, scharf von unscharf trennt, die durch Gesichter und Körper schneidet und die entstehenden Wunden lange offen hält. Sie hat auch spürbare physische Präsenz, zwängt sich in den Fahrstuhl, bis die Türen zugehen, braucht Zeit, bis sie in Position ist, liegt mit der Schärfe oft daneben, verbrennt die hellsten und zerquetscht die dunkelsten Bildregionen. Sie ist da.

Ein Beispiel: Minutenlang sehen wir sehr scharf, sehr groß, ein Ohr, während im dunklen, schwammigen Zwielicht dahinter ein Mann davon spricht, dass der Opa endlich raus aus der Wohnung und ab ins Heim solle. Irgendwann erst bewegt sich der Alte, und die Kamera folgt ihm durch die enge Wohnung, schiebt sich mit ihm durch Durchgänge und an seinem Sohn vorbei. Es gibt viele mehrminütige, hochkomplizierte Plansequenzen wie diese, in denen sich die Nähe und Figurenfixiertheit der frühen Dardennes-Kamera mit den durchgeplanten Kompositionen eines Béla Tarr verwebt und dabei doch weder das eine noch das andere ist. Anders als bei den Dardennes wird die Kamera hier nicht von den Figurenbewegungen mitgerissen, sondern weiß immer schon, wo sie landen, was sie zeigen will. Sie entdeckt nicht Neues, sondern stößt unablässig auf das Unausweichliche. Anders als bei Tarr jedoch bleiben die Bilder ganz und gar humanistisch, spannen sich Räume nur auf, wenn jemand hindurchgeht, existiert die Welt nur als Umwelt. Die Treppenhäuser, Gassen und Tunnel der Blocksiedlung sind ganz und gar mit den Menschen verwachsen, sie bilden ein architektonisch-humanes Knäuel, das sich ständig bewegt, ähnlich wie in den hyperlokalen und hoch empathischen Filmen Wang Bings.

Ein kleiner Triumph der Poesie

Die Kamera ist also so eigensinnig und selbstbezogen wie die Figuren. Zeigt, was sie will, verbirgt, was sie will. Nun könnte man sagen: Eine Ego-Kamera in einer Ego-Welt. Aber so einfach ist es nicht. Denn anders als die in ihre Egoismen verschlossenen Menschen zeigt die Kamera, zeigt uns Hu Bo ihre Welt und macht so einen Kanal auf, durch den das Leben zur Anschauung kommt. It’s not the end, it’s just the end of hope: Die Kamera betont den ersten Teil des Verses, weil der zweite immer schon feststeht. Sie erlebt mit, auch wenn sie den Ausgang schon kennt. Sie feiert die Lebendigkeit der Hoffnungslosen – und inszeniert so einen kleinen Triumph der Poesie über die Depression, ein Dabeibleiben trotz allem. Ein Triumph, der auch deshalb so berührt, weil der junge Regisseur dieser von zwei Selbstmorden gerahmten Erzählung sich nach Drehschluss selbst das Leben nahm. Angesichts dieses außergewöhnlichen Debüts ist das bestürzend nicht nur für die, die ihn kannten, sondern für die Welt des Kinos insgesamt.

Der Film steht bis 20.04.2023 in der Arte-Mediathek.

Neue Kritiken

Trailer zu „An Elephant Sitting Still“


Trailer ansehen (1)

Neue Trailer

alle neuen Trailer

Kommentare


Urs Bender

Film verpasst?


Frédéric

Hab ihn gestern gesehen - fantastisch!






Kommentare der Nutzer geben nur deren Meinung wieder. Durch das Schreiben eines Kommentars stimmen sie unseren Regeln zu.