Amrum – Kritik

Ein Junge und seine Mutter flüchten 1945 in den letzten Kriegstagen auf die norddeutsche Insel Amrum. Fatih Akin verarbeitet in seinem gleichnamigen Film die Kindheitserinnerungen seines Mentors Hark Bohm. Die sensible Coming-of-Age-Geschichte wird zum Ausdruck ihrer tiefen Freundschaft.

Zuerst ist da nur Meeresrauschen. Der Blick von oben auf ein schmales Stück unberührten, wellenumspülten Strand. Dann auf einmal dröhnender Flugzeuglärm. Eine Staffel alliierter Kampfbomber nähert sich der Insel. Zwei Jungs, die auf dem Feld Kartoffeln pflanzen, ducken sich in die Ackerfurche, eine Frau bändigt das nervöse Pferd vorm Pflug und folgt mit angespanntem Blick dem Geschwader. „Die werfen nur Ballast ab“, weiß einer der Jungen. Anstatt dass Bomben vom Himmel fallen, rollt kurz darauf ein Leiterwagen mit fremden Kindern an dem Feld vorbei. Flüchtlinge aus Schlesien, sagt der Mann auf dem Kutschbock, die Russen stünden kurz vor Berlin. „Dann hat Hitlers Scheißkrieg ja bald ein Ende“, raunt die Kartoffelbäuerin und spuckt verächtlich auf den Boden.

Fatih Akins Amrum spielt auf der gleichnamigen nordfriesischen Insel in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs. Es ist die Geschichte von Nanning, einem 12-Jährigen aus gutem Hause, der mit seiner hochschwangeren Mutter, seiner Tante und zwei jüngeren Geschwistern aus dem brennenden Hamburg auf die Insel geflüchtet ist. Jetzt arbeitet er für die Bäuerin, um die Familie mit dem Nötigsten zu versorgen: Milch, ein Stückchen Butter, Hühnerfutter. Der Vater, SS-Mann und überzeugter Rassentheoretiker, ist in Kriegsgefangenschaft. Die Mutter, eine glühende Hitler-Anhängerin, glaubt immer noch an den Endsieg und droht jeden, der daran zweifelt, wegen Wehrkraftzersetzung anzuzeigen.

Nanning versucht, alles irgendwie unter einen Hut zu bekommen: Mutter Hille (Laura Tonke) mit Lebensmitteln glücklich zu machen, den Nachbarjungen Hermann (Kian Köppke) zum Freund zu gewinnen, nachts am Strand Treibholz zu sammeln, mehr über den mysteriösen Seefahrer-Onkel Theo (Matthias Schweighöfer) zu erfahren, der jetzt in Amerika lebt und über den die Familie kaum spricht. Dennoch bleibt Nanning für die Inselbewohner ein „Festländer“ – jemand, dem sie misstrauen, auch weil vor seinem Haus auch dann noch die Hakenkreuzfahne weht, als man anderenorts schon amerikanische Sender hört und auf das baldige Kriegsende hofft. Als dann im Radio Hitlers Tod gemeldet wird, bricht für die Mutter die Welt zusammen. Sie kümmert sich nicht mehr um ihr Neugeborenes und fällt in eine tiefe Depression. Nanning glaubt, alles werde wieder gut, wenn er ihr nur ein Stück frisches Weißbrot mit Butter und Honig besorgen könnte. Dieser beiläufig geäußerte Wunsch der Mutter wird zum Trigger für hochriskante Ausflüge ins Watt, Tauschgeschäfte, Schlägereien, Kaninchen- und Robbenjagd.

Der Außenseiterblick auf eine persönliche Lebensgeschichte

Ein Coming-of-Age-Drama anno 1945 – eigentlich ein ungewöhnlicher Stoff für Fatih Akin, dessen Filme meist um zeitgenössischere Themen kreisen. So griff der deutsche Regisseur mit türkischen Wurzeln in dem preisgekrönten Spielfilm Aus dem Nichts (2017) die rechtsextremen NSU-Morde in den 1990er Jahren und den strukturellen Rassismus der Polizei auf. In Crossing the Bridge (2005) ging es um die musikalische Vielfalt Istanbuls und in seinem letzten Film Rheingold (2022) erzählte er die Geschichte des deutsch-iranischen Gangster-Rappers Xatar. Dass er sich jetzt mit einer nordfriesischen Insel und mit der NS-Zeit beschäftigt, hat mit seinem Freund und Mentor Hark Bohm zu tun. Amrum ist Bohms Geschichte. Der Hamburger Filmemacher (Nordsee ist Mordsee, Yasemin) hatte dem jüngeren Regiekollegen von seinen Kindheitserlebnissen auf der Insel Amrum, der Kriegszeit, den Nazi-Eltern erzählt. Und Akin ermutigte ihn, daraus einen Film zu machen. Bohm schrieb das Drehbuch, fühlte sich mit 86 Jahren den Anstrengungen eines monatelangen Drehs dann aber nicht mehr gewachsen. Stattdessen bat er Akin, die Regie zu übernehmen.

Der tat sich laut eigenem Bekunden zunächst schwer mit der Entscheidung, einen so persönlichen und lokal verankerten Stoff zu verfilmen. Um so erstaunlicher ist das Ergebnis, das Bohms Geschichte mit großer Sorgfalt umsetzt und dabei doch unverkennbar ein Fatih-Akin-Film geworden ist. Vielleicht war es sogar ein Glücksfall, dass Akin mit seinem Außenseiterblick dieses norddeutsche Kriegsdrama in Szene gesetzt hat. Zunächst ist da die Sprache: Die Inselbewohner sprechen im Film „Öömrang“, einen speziellen friesischen Dialekt, den es nur auf Amrum gibt und der so fremd klingt, dass er mit Untertiteln übersetzt wird. Damit hebt Akin schon auf der Klangebene die Eigenwilligkeit der Inselbewohner hervor. Bei der Besetzung suchte er nach robusten norddeutschen Gesichtern und holte dafür Regiekollegen wie Detlef Buck und Lars Jessen vor die Kamera. Auch Weltstar Diane Kruger ist in der Rolle der toughen Bäuerin Tessa mit Kittelschürze, Kopftuch und Gummistiefeln kaum wiederzuerkennen. Für den Hauptdarsteller Jasper Billerbeck, der Nannings innere Zerrissenheit und kindliche Entschlossenheit mit sparsamer Mimik überzeugend spielt, ist es die erste Kinorolle überhaupt.

Zwischen Käfern im Gras und Kriegsgetöse

Die Kamera ist oft ganz dicht dran an den Protagonisten und der Film erzählt die Geschichte mit knappen Dialogen und eindrucksvollen Landschaftsaufnahmen ganz aus der Sicht des Jungen (Kamera: Karl Walter Lindenlaub). Dabei mutet Akin ihm und uns auch Schockmomente zu. Nanning lernt auf die harte Tour, dass auf der Insel alles auf Gegenseitigkeit beruht. Für ein paar geräucherte Schollen muss er dem Fischer als Lockvogel für die Jagd dienen und zusehen, wie einer kulleräugigen Robbe direkt vor seinen Augen in den Kopf geschossen wird. Bei einem nächtlichen Streifzug am Strand stolpert er über die grausige Leiche eines englischen Fallschirmjägers, später entdeckt er dann den blutüberströmten SS-Ortsgruppenführer, der sich nach der Kapitulation eine Kugel in den Kopf geschossen hat.

Die Kriegsgräuel werden ansonsten nur angedeutet, stattdessen hält Akin die Geschichte nah an den Figuren. Was die Nazi-Ideologie mit Menschen macht, zeigt er in beklemmenden Familienszenen oder im spröden Mit- und Gegeneinander der Inselgemeinschaft. Dabei geht es ihm weniger um Schuld und Sühne als um die Frage, wie man in schweren Zeiten seine Menschlichkeit bewahrt. Und wie ein Kind seine Nazi-Eltern lieben und doch an deren inhumanen Idealen verzweifeln kann. Das verleiht dem Film trotz des historischen Stoffs und der speziellen Inselperspektive eine universelle Bedeutsamkeit. Außerdem scheint Akin auf Amrum sein Faible als Naturfilmer entdeckt zu haben. Die Insel setzt er mit hohem Himmel, weitem Horizont und im Mondlicht silberglänzendem Meer immer wieder großartig in Szene – malerisch-schöne Panoramen, die wie Gegenbilder zum fernen, menschengemachten Kriegsgetöse wirken. Dann wieder bleibt die Kamera an Käfern und Bienen im Gras hängen, verharrt auf einer Eule in Großaufnahme oder schaut Austernfischer-Vögeln bei der Paarung zu. Diese kontemplativen Einschübe wirken erstmal irritierend, in ihrer Losgelöstheit vom übrigen Geschehen aber auch tröstlich.

Am Ende steht Hark Bohm selbst am Strand von Amrum, dem Ort, an dem er vor 80 Jahren das Kriegsende erlebte und wichtige Weichen für sein späteres Leben gestellt wurden. Er lächelt milde und zuversichtlich in die Kamera. Vielleicht auch, weil er weiß, dass seine Geschichte in guten Händen ist.

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