Als der Wind den Sand berührte – Kritik
Schon oft war die Wüste Hauptdarsteller in einem Film. Marion Hänsel zeigt ihre Lebensfeindlichkeit aus einer neuen, radikalen Perspektive: Was bedeutet das Verdursten wirklich? Wie sieht es aus?

Afrika – ein Wort, das Bilder im Kopf erzeugt. Von Armut, Chaos, Verzweiflung, aber auch von Stolz, Schönheit und Romantik. Wie davon erzählen? Auf der einen Seite droht die Tristesse der Sozialreportage, auf der anderen die Beschönigung real existierender Probleme. Die belgische Regisseurin Marion Hänsel vermeidet beides. Sie lässt das Afrika von heute in eine fiktive Geschichte einfließen. Dadurch kann der westliche Zuschauer erleben, was abstrakte Begriffe wie Versteppung, Durst und Korruption für das Leben und Sterben einer Familie tatsächlich bedeuten.
Es geht um den Dorflehrer Rahne, seine Frau Mouna und ihre drei Kinder. Die Familie lebt in einem Dorf im ostafrikanischen Djibouti. Ihre Lage spitzt sich zu, als die Brunnen versiegen. Zu denen mussten sie bisher schon vier Stunden laufen, die nächsten Wasserstellen sind sechs Stunden entfernt. Das bedeutet: Hier kann das Dorf nicht bleiben. Aber wohin? Während sich die Mehrheit gen Süden aufmacht, halten Rahne und eine befreundete Familie den Osten für besser. Für die Entscheidung gibt es Gründe, doch sie erweisen sich als falsch. Auf dem Weg durch die Wüste warten korrupte Soldaten, ebenso skrupellose Rebellen und mörderische Fußmärsche.

Im Prolog zeigt die Kamera ein Baby. Es schaut in die Augen der Mutter. Aber im Blick der Mutter spiegelt sich Angst. In der Nacht flieht sie ins Freie, denn das Baby soll erstickt werden: Ein Mädchen ist ein Esser zu viel für eine Familie, die schon zwei Buben hat. Am Morgen kehrt die Mutter zurück, der Mann schlägt sie. Dann fragt er: Wie sollen wir es nennen? Shasha, die Tochter, ist gerettet. Aufgenommen in eine Welt, in der ein Menschenleben wenig zählt, in der Gewalt regiert, in der Hunger und Durst die Menschen zu Wölfen machen. Aber auch aufgenommen in eine Familie, die voller Energie steckt und ihr Schicksal mit Würde annimmt.
Der Film erzeugt bereits zu Beginn mit sparsamen Mitteln eine Vorahnung, was diesen Leuten ein paar Jahre nach der Geburt der Tochter blühen wird. Wenn Shasha am Tag des Aufbruchs ein Festkleid für die Reise trägt und wenn der farbenfrohe Zug mit Kamel und Ziegen schon am Ende des ersten Tages auf eine Wasserstelle trifft, dann spüren wir: Das ist zu schön, um von Dauer zu sein.

In der Folge gerät die Familie in ein Bürgerkriegsgebiet und verirrt sich in der Wüste. Was das bedeutet, zeigt die Kamera mit ungeschöntem Blick. So wird der Zuschauer Zeuge, wie Menschen über Tage hinweg verdursten, wie die Lippen aufspringen, wie die Kräfte immer mehr nachlassen. Wir sehen, wie der eine Sohn von Rebellen entführt und der andere grundlos abgeknallt wird. Dass die Tochter überlebt, ist reines Glück: Die Eltern werden gezwungen, sie über ein Minenfeld zu schicken. Und das ist längst nicht die letzte Szene, die manch einem Zuschauer die Tränen in die Augen treiben wird.
Marion Hänsel, die das Drehbuch nach der Romanvorlage Chamelle (2002) von Marc Durin Valois geschrieben hat, inszeniert Gewalt und Sterben nicht im Stil einer Sozialreportage. Sie zeigt die Verhältnisse, wie sie sind. Aber sie gönnt ihren Figuren einen Tick mehr an Mut und Menschenwürde, als reale Menschen in dieser Situation aufbringen würden. Und sie zeigt die Wüste in all ihren Gegensätzen, als betörend schöne Landschaft und als tödliche Falle.

Rahne und Shasha werden auf ihrem Marsch zu Identifikationsfiguren, die uns bis zum Schluss auf ein Wunder hoffen lassen. Dabei geht die Regisseurin hart an die Grenze der Rührseligkeit, aber nie darüber hinaus. Denn die Charaktere bleiben widersprüchlich. Dorflehrer Rahne (Issaka Sawadogo) hält die Schwebe zwischen innerer Stärke und purem Überlebensinstinkt. Tochter Shasha (Asma Nouman Aden) bezaubert durch kindliche Lebensfreude, die plötzlich in erwachsenen, fast altklugen Ernst umschlägt.
Der Film zeigt Extremsituationen, etwa das langsame Verdursten der Mutter. Aber auch, wie Menschen das Unerträgliche aushalten. Zuerst ist es nur die Tochter, die halluziniert. Aber dann winkt der Vater plötzlich einem unsichtbaren Mann auf der anderen Seite der Wüstenpiste zu. Shasha lacht, nun ist sie die Beschützerin ihres Vaters, der mitten auf dem Weg zu Boden geht. Sie kauern sich aneinander, dämmern dem sicheren Tod entgegen. Helfen kann ihnen nur noch die Fantasie. Und so hält der Film für die beiden dann doch eine überraschende Wendung bereit.
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