Alpha – Kritik
Nowe Horyzonty Festival: Das Spektakel des Fleisches in maximaler Größe. Nach Raw und Titane bleibt Julia Ducournau dem Body Horror treu. Alpha vermischt eine globale Pandemie mit dem privaten Leiden an einer Drogensucht.

Vernarbte Nadel-Einstichstellen auf dem Unterarm. Kalkweiße Kopfhaut, unter der sich schwarze Adern abzeichnen. Blut und Eiter, die aus Rissen im Rücken fließen. Julia Ducournau und ihr Stamm-Kameramann Ruben Impens schauen genau hin, wenn Körper aufbrechen, sich zersetzen oder von Spuren des Schmerzes gezeichnet sind. Das hat die beiden vor neun Jahren dank Raw (Grave, 2016) bekannt gemacht und ihnen vor vier Jahren die Goldene Palme für Titane (2021) beschert. Auch in Alpha penetriert ihr Blick den Körper wieder – oft in Form von Makroaufnahmen, die das Spektakel des Fleisches in maximaler Größe auf die Leinwand transportieren.
Alles beginnt mit einem blutigen Tattoo, das die 13-jährige Alpha (Mélissa Boros) von einer Party mitbringt. Ihre alleinerziehende Mutter (Golshifteh Farahani), eine Ärztin, gerät in Panik, als Alpha nicht sicher sagen kann, ob die Tattoo-Nadel clean war. Schließlich geht da draußen – im Frankreich der 80er-Jahre – ein Virus um, das sich meist per Geschlechtsverkehr oder eben via Nadel überträgt. Wer es erwischt, beginnt bald kreideartigen Staub auszuhusten, die Haut versteinert, die Adern treten stark hervor – und nach einer Art Zombiestadium endet das Ganze im Tod.
Bis zur Selbstaufgabe

Den ersten Teil verbringt der Film mit dem bangen Warten auf Alphas Testergebnisse: Ist sie infiziert oder nicht? Kaum hat man sich auf eine Aids-Allegorie eingerichtet, tritt jedoch Amin (Tahar Rahim) auf, Alphas Onkel. Der ist schwer drogenabhängig und dem Tod bislang nur entronnen, weil seine Schwester sich neben Krankenhaus-Job und Alphas Erziehung bis zur Selbstaufgabe aufopfert und ihn über den Film hinweg wieder und wieder reanimiert. Aus dem vermeintlichen Pandemie-Film wird so nach und nach ein Drogendrama, das (mit vermutlich bewusster Redundanz) vom zermürbenden Kampf gegen die Sucht erzählt: vom permanenten Zyklus aus helfen-wollen, aufkeimender Hoffnung wider besseres Wissen, darauffolgender Enttäuschung, die alle Hoffnung übertüncht, und trotzdem-nicht-loslassen-können.
In Alpha steckt ein starkes, etwa 70-minütiges Suchtdrama. Das Problem ist, dass Ducournau den Film völlig überfrachtet. Den Pandemie-Teil scheint sie beinahe zu vergessen, sobald Amins Drogensucht und die Rettungsversuche seiner Schwester in den Fokus rücken. Ab und zu mischt sie noch ein wenig Coming-of-Age hinzu – ebenso wie Generationen- und Glaubenskonflikte zwischen den Mitgliedern einer nordafrikanischen MigrantInnen-Familie. Das Ergebnis ist ein narratives Durcheinander, das wild zwischen verschiedenen Strängen und Protagonistinnen hin und her springt und viel zu lang gerät.
Body Horror als Komfortzone

Es gelingen ihr dabei durchaus einige visuell sehr schöne Sequenzen – sei es das bedrohliche Absenken einer Zimmerdecke als klaustrophobischer Ausdruck von Traumata oder die symbolische Auflösung eines Drogensüchtigen, der seinen Angehörigen wie Sand zwischen den Fingern zerrinnt. In einigen Szenen verlässt sich der Film allerdings sehr stark auf die Wirkung nicht-diegetischer, melancholischer Musik – sei es Portishead, Nick Cave oder ein Beethoven-Exzerpt, das assoziativ so stark von Gaspar Noés Irréversible (2002) besetzt ist, dass es wirkt, als erkläre sich Ducournau mit diesem Verweis selbst zum neuen Nordstern des Body Horror.
Keine Frage: Auch Julia Ducournau versteht sich darauf, die soghafte Intensität der Filme Noés zu evozieren. Sie bringt den Puls immer wieder zum Rasen, wenn Alpha nachts auf einem wackelnden Gerüst kriecht, Amin im Drogencrash krampft und seine Schwester wie wild auf seinem Brustkorb pumpt. Doch ob sich hinter all der Kinetik mehr verbirgt als Schauwerte, bleibt in Alpha fraglich: Die Aids-Allegorie verharrt auf dem Niveau einer bloßen Anspielung, die diversen Zeitsprünge – ein weiteres Markenzeichen von Irréversible – wirken mit ihren Paradoxien wie ausgestellte Beweise der eigenen Kunstfertigkeit, und der Plot kann sich weder für einen Hauptstrang noch für eine Hauptfigur entscheiden. Ducournau hat sich mit Body Horror einen Namen gemacht, insofern ist ihr konsequentes Verweilen in diesem Genre nachvollziehbar. Mit Alpha erweckt sie jedoch den Eindruck, als sei das Genre inzwischen zu einer Komfortzone geworden, in der sie es sich etwas zu bequem gemacht hat.
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