All We Imagine as Light – Kritik

Finding Love in Hopeless Places: In ihrem fantastischen zweiten Film folgt Payal Kapadia drei Frauen, die in einem Mumbaier Krankenhaus arbeiten, von der Stadt ans Meer. All We Imagine as Light ist ein Film, der Trost spendet, ohne etwas schönzureden.

Ein Stadtfilm, zunächst. Mumbai aus dem Bus und aus der Bahn gefilmt, während der Monsunzeit, also manchmal mit heftigen Regenfällen und häufig im Dunkeln. Das Voice-over klingt nach Dokumentation, verschiedene Leute sprechen über die Stadt, als wären sie danach gefragt worden, über ihr Ankommen und darüber, wo sie herkommen, denn Mumbai ist eine Stadt, in der man von überall her landet, und allein in diesem Film werden drei verschiedene Sprachen Indiens gesprochen.

Das Licht ist mitten im Bild

Wie schon in Payal Kapadias tollem Debüt A Night of Knowing Nothing (2021) schält sich aus dem Dokument bald eine Fiktion heraus. Der Vorspann kündigt schon die drei großartigen Hauptdarstellerinnen an, ein erster Musikeinsatz weist bereits über den Naturalismus hinaus, und schließlich steht da Prabha (Kani Kusruti) in der Hochbahn in ihrem blauen Gewand. Hält sich an einer der Stangen fest, doch Ranabir Das’ Kamera und die Bewegung des Zuges gehen in dieser Einstellung eine so eigentümliche Beziehung ein, dass es scheint, als wiege Prabha sich im Wind, anstatt mitten im öffentlichen Nahverkehr einer Millionenstadt zu stecken. Hoffnung und Freiräume, Handlungsmacht und heimliche Wünsche, überhaupt alles, was wir uns als Licht vorstellen, sind in keinem Außen, sondern mitten im Bild zu finden.

Schon in dieser ersten Sequenz steckt eines der vielen Wunder von Kapadias neuem Film All We Imagine as Light: Er macht die Hektik der Stadt auf eine Weise erfahrbar, dass wir einerseits die latente Ruhelosigkeit der Figuren nachvollziehen und andererseits die Allmählichkeit seiner Erzählung umso mehr zu schätzen wissen. Ein liebevolles Kennenlernen ist dieser Film in diesem ersten Teil: Prabha ist Pflegerin in einem großen Krankenhaus, sie hört zu Beginn geduldig einer greisen Patientin zu, der im Albtraum schon wieder ihr toter Mann erschienen ist. Sie pflegt und macht und tut, während ihre jüngere Kollegin Anu (Divya Prabha) an der Rezeption Sterilisationen empfiehlt und heimlich die Pille verschreibt, sich aber auch einfach die Zeit vertreibt: sich im Drehstuhl dreht, sich mit dem Stethoskop selbst abhört, und bei so viel Unfug lässt sich auch der Klavierscore mal zum Improvisieren verleiten.

Die Hoffnung stirbt zuletzt, aber ihr geht es gar nicht gut

Eleganter kann man Figuren kaum einführen, denn die mehr oder weniger arbeitenden Körper im Krankenhaus spiegeln ja doch nur Seelenzustände: Anu ist dem Unfug zugewandt und will das eigene Herz schlagen hören, weil sie in einem rührend klassischen Sinne verliebt ist; zwischendrin textet sie mit dem schüchternen Shiaz (Hridhu Haroon), der Muslim ist und von dem Anus Eltern nichts wissen dürfen, die schicken ihr nämlich ständig schnieke Hindu-Männer als Heiratsanwärter aufs Handy. Die verbotene Liebe ist eine Bürde für Anu und Shiaz, aber ein Geschenk für den Film, denn so wird zum innigen Küssen eine Tiefgarage aufgesucht, die ein solches Licht sicher noch nie gesehen hat.

Prabha hingegen scheint beim Pflegen eher auf Ablenkung aus. Ihr Ehemann, vor längerer Zeit der Arbeit wegen nach Deutschland gezogen, ist ähnlich geisterhaft unterwegs wie der tote Gatte ihrer Patientin. Kein Anschluss findet sich unter seiner Nummer, und alles, was sie von ihm noch bekommt, ist eines Tages ein Paket mit einem Reiskocher made in Germany. Ein endgültiges Zeichen erkalteter Liebe, und doch klammert sich Prabha eines Nachts an das Küchengerät, als wäre es ihr Ein und Alles, und doch hat sie für den Arzt, der ihr erst ein Gedicht mit in den Feierabend gibt und später seine Avancen sogar ausbuchstabiert, nur einen Korb übrig. Die Hoffnung stirbt zuletzt, aber ihr geht es gar nicht gut.

Prabha und Anu, beide aus dem Süden in Mumbai gelandet, arbeiten nicht nur, sie wohnen auch zusammen, eine mehrgenerationale Zweck-WG eher als eine familiäre Gemeinschaft. Krankenhausköchin Pavarty (Chhaya Kadam), die dritte in jenem Bunde, von dem erstmal nur der Film weiß, wohnt vielleicht bald gar nicht mehr hier, sie ist nach dem Tod ihres Mannes und als eine der letzten Bewohner*innen eines Gebäudes, das einem neuen Hochhausprojekt weichen soll, nämlich von einer Räumungsklage bedroht – eine der expliziteren politischen Anspielungen, die Kapadia in ihrem Film aufruft. Zumeist ist All We Imagine as Light darum bemüht, die Prekarität seiner Figuren nicht in Dialogen zu erklären, sondern direkt in fragile Bilder zu übersetzen. Dass es hier keine Sicherheiten gibt, weiß schon die nach Halt suchende Kamera.

Aus der Welt und wieder in sie hinein

Das Gefühl, das All We Imagine as Light mir gibt, beim Sehen und beim Nachdenken, habe ich gar nicht mehr so häufig: dass sich ein Film vollkommen und ohne Prätention auf seine Figuren einlässt, sie weder durch eine Handlung hetzt noch formstreng dem eigenen Kunstwillen ausliefert. Dass ein Film seine schönen Bilder nicht aneinanderreiht, sondern sie mühevoll den dargestellten Lebenswelten abringt, die Schönheit sich also verdient anfühlt. Dass jede Szene nicht nur ihre Daseinsberechtigung hat, sondern den Film zu jener Welt hin öffnet, die er selbst geschaffen hat, die seine Rahmungen aber übersteigen muss, um sich wahrhaftig anzufühlen. Denn jedes Bild von All We Imagine as Light weiß um die eigene Ausschnitthaftigkeit und lässt sich deshalb doch nichts von seiner Eigenständigkeit nehmen.

Kapadias Poetik des Trosts ist bitter nötig, denn Mumbai ist eben keine Stadt der Träume, sondern der Illusionen, so heißt es einmal. Die Männer also tot, fort oder verboten; die Stadt dem Wandel unterworfen, das Geld knapp. Was bleibt? Pavarty in Mumbai nicht viel. Man geht auf ein Protesttreffen, wirft heimlich Steine gegen das Gebäude, muss aber doch klein beigeben. Die älteste der drei Protagonistinnen kehrt in ihr Küstendorf zurück, Prabha und Anu begleiten sie dorthin, für einen Tag. Alle haben ihre Gründe für den Trip, und der Film nun einen Grund, sich nochmal in ein anderes Gewand zu werfen. Denn fernab von jedem schlichten Stadt-Land-Kontrast findet All We Imagine as Light in dieser Reise zu einem neuen Rhythmus, zu gänzlich neuen Vorstellungen von Zeit und Licht.

Am Ende ist der Stadt- zum Strandfilm geworden, und am Meer passieren gänzlich unvorhergesehene Dinge, selbst der nicht mehr für möglich geglaubte, weil durch Monsun und Hindu-Nationalismus verhinderte Sex, selbst die fantastische Wiederbelebung einer Beziehung, die längst verkocht ist. Und dann warten der Sternenhimmel, die Neonbeleuchtung, das Meer und ein Barkeeper, der die letzte Runde mit dem größten Vergnügen hinauszögert: Wie Kapadia aus all den komplexen Energien, die ihren Film durchziehen, das tröstendste Schlussbild destilliert, das angesichts der zuvor skizzierten Verhältnisse möglich scheint, ohne dass es schief klingt … viel mehr kann einem Kino, das aus der Welt kommt und wieder in sie hineinwill, nicht gelingen.

Neue Kritiken

Trailer zu „All We Imagine as Light“


Trailer ansehen (1)

Neue Trailer

alle neuen Trailer

Kommentare

Es gibt bisher noch keine Kommentare.






Kommentare der Nutzer geben nur deren Meinung wieder. Durch das Schreiben eines Kommentars stimmen sie unseren Regeln zu.