All the Long Nights – Kritik

Die Büroangestellte Misa und ihren Schreibtischnachbarn eint das Gefühl, in einer aufs Funktionieren fixierten Gesellschaft nichts wert zu sein. All the Long Nights erzählt die simple Geschichte ihrer Annäherung voller Sanftmut und urteilsfreier Neugier.

„Ich glaube, die Menschen haben in der Morgendämmerung immer ein Gefühl der Hoffnung gespürt. Ohne den Morgen wäre vieles Leben nie entstanden. Aber ohne die Nacht hätten wir die Welt jenseits der Erde nie wahrgenommen. Dank der Nacht können wir uns die unendlichen Weiten jenseits der Dunkelheit vorstellen. Manchmal wünsche ich mir, dass die Nacht ewig dauert, um wieder und wieder in den Nachthimmel blicken zu können. Dunkelheit und Stille halten mich in dieser Welt. Vielleicht kann jemand in einer anderen Stadt nicht einschlafen und wartet auf den nächsten Morgen.“

Diese Zeilen liest Misa Fujisawa (Mone Kamishiraishi) neben einigen weiteren aus einem Notizheftchen vor, während sie umgeben von Schulkindern und deren Eltern in einem düsteren Raum mit einer Taschenlampe kniet. Sie befinden sich in einem Zeltplanetarium, das eine Firma für Astronomie-Equipment alljährlich in der Turnhalle einer Grundschule aufbaut, um den Kids die Faszination für das Weltall und was damit zusammenhängt, näherzubringen.

Unaufgeregtes Erzählen

Aus diesen Zeilen, die die Firmenmitarbeiterin Misa da vorliest, spricht die Zuversicht, dass auf die Nacht stets die lichtbringende Dämmerung folgt, auch dass man nicht allein auf der Welt ist, sofern man bereit ist, sich auf andere einzulassen. Die Sätze fallen kurz vor Ende von Shô Miyakes (*1984) All the Long Nights (Yoake no subete) und spiegeln bei aller Traurigkeit doch dessen hoffnungsvolle, ganz dem Menschen verbundene Erzählung wider – selbst dann, wenn sie innerhalb von Minuten weit mehr Pathos auffahren als die restlichen zwei Stunden zusammen.

Manch einer wird das alles menschelnd bis kitschig finden. Wer bereit ist, sich darauf einzulassen, den erwartet eine simple Geschichte voller Sanftmut und urteilsfreier Neugier (ähnlich den Filmen vom Zeitgenossen Hirokazu Kore-eda oder des offensichtlichen historischen Vorbilds Yasujirō Ozu). Das war bereits bei Miyakes letztem, auf der Berlinale präsentierten Drama Small, Slow, But Steady (2022) so. Dort folgten wir einer jungen gehörlosen Boxerin, die trotz ihres Handicaps nicht aufgibt, aber eben auch nicht triumphiert. Sie wird nie eine Siegerin, dafür interessiert sich der Film nicht. Stattdessen porträtiert er, wie die Teenagerin wieder und wieder an ihre Grenzen geht – eine Parallele zum neuen Film, den ebenso die Sehnsüchte und Fehlschläge seiner Protagonist:innen anstelle von drehbuchforcierten Erfolgsgeschichten reizen. Alles geht in kleinen Schritten voran, in sich ruhende Halbtotale folgt auf Halbtotale; weder die Form noch die Figuren brechen aus, der repetitive Elektroscore setzt den Rhythmus.

Isolierter Schmerz

Die vorgelesenen Zeilen stammen tatsächlich gar nicht von Misa, sondern vom verstorbenen Bruder ihres Chefs, der bereits dreißig Jahre zuvor für Schulklassen Vorträge vor projiziertem Sternenhimmel hielt und hiervon seine Notizen und Aufnahmen hinterließ. Er hat sich umgebracht; einmal wird es kurz angedeutet. Von seinen Depressionen wusste der Bruder und Firmen-Ko-Leiter Kazuo Kurita (Ken Mitsuishi) nichts; seit Jahren besucht er deshalb eine Selbsthilfegruppe, die ihn bei der Trauerarbeit unterstützt. Auch wenn All the Long Nights ihm den Raum gewährt, ist Kazuo, der die Pflanzen im Büro beim Gießen mit „Ohayu!“, einem „Guten Morgen!“ begrüßt, nur eine von vielen, über die kleinen alltäglichen Handlungen gezeichneten Nebenfiguren. Sein Leid ist wie ein Echo des Schmerzes, den die Angestellten Misa und ihr Schreibtischnachbar Takatoshi Yamazoe (Hokuto Matsumura) im Zentrum dieser Geschichte empfinden.

Misa leidet unter PMS, wie sie es aus Scham vor allem gegenüber männlichen Gesprächspartnern abkürzt, dem Prämenstruellen Syndrom, das physische und kognitive Einschränkungen zur Folge hat. Wenn die Schübe einsetzen, hat sie ihren Körper und ihre Gefühle nicht unter Kontrolle. So ähnlich geht es Takatoshi, der unter Angststörungen leidet, sogar dasselbe Medikament wie Misa einnimmt. Einmal versucht er sich selbst zu verhaltenstherapieren, nämlich mit einer Hochbahn zu fahren. Wie versteinert steht er letztlich vor der Schiebetür, bis die Bahn abfährt und er zu Boden sinkt. Stärker als die gemeinsame Erfahrung von Krankheit eint die Kolleg:innen das Gefühl, in einer Gesellschaft, in der das Funktionieren über allem steht, nichts wert zu sein. Sie verheimlichen ihr Inneres, vertrauen sich erst jemandem an, wenn sie sicher sind, nicht verletzt zu werden. Und so zieht sich auch die Annäherung der beiden über weite Strecken des Films, ja sie ist selbst am Ende noch nicht abgeschlossen.

Distanziertes Staunen

Denn was wie eine vorhersehbare Lovestory klingen mag, ist tatsächlich eine lose Abfolge von Szenen in konstanter Schwebe. Die zunächst in ihren kleinen Apartments und den Großraumbüros isolierten Mitzwanziger beginnen zaghaft, eine Freundschaft aufzubauen, in immer neuen Anläufen sich dem Leben zu stellen. Bei all dem Optimismus, den der Film trotz seiner latenten Traurigkeit versprüht, ist er nie naiv in dem Sinne, dass er über die Köpfe seiner Figuren hinweg ein Feelgood-Movie werden würde. Wie beim erwähnten Ozu schaut Miyake mit distanziertem Staunen auf die bislang antriebs- und ziellosen Freunde und wie sie sich in die Planung des Planetariums einarbeiten.

So einfühlsam das beobachtet ist, gibt es da diesen Rest, der sich einem nicht mitteilt. All the Long Nights funktioniert mehr gestisch als über Sprache. Gesichtszüge, Körperzuckungen und Handreichungen von kleinen Präsenten und Speisen sprechen deutlich aus, was die Worte, die als so durchreglementiert wie die gespenstische Arbeitswelt erscheinen, einem „verweigern“. Umso wuchtiger sind die privaten Notizbuchzeilen von Kazuos verstorbenem Bruder. Hier bekommt die Literaturverfilmung des gleichnamigen Romans von Maiko Seo doch noch etwas Literarisch-Abstraktes, was sie abseits zweier, den Film zu Anfang und Ende rahmender Monologe nie hat. Wieder das Unvorhersehbare.

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