All the Dead Ones – Kritik

MUBI: Auf einmal Geister, überall. Caetano Gotardo und Marco Dutra finden an der Schwelle des 20. Jahrhunderts den Schlüssel zur brasilianischen Gegenwart. All the Dead Ones ist ein klassizistischer Film über das Erbe der Sklaverei.

„Es gibt keine Sklaven mehr“, sagt Antônio (Rogério Brito), selbst Sohn eines weißen Großgrundbesitzers und einer Sklavin. „Sind sie alle tot?“, fragt Ana (Carolina Bianchi) ungläubig zurück und meint das ernster, als Antônio es wahrhaben will, als der mit einem Ach-Dummerchen-Lächeln antwortet: „Du weißt schon, was ich meine, sie sind keine Sklaven mehr.“ Eine sprachliche Mehrdeutigkeit, um die ein ganzer Film gebaut ist.

Lektion in Sachen Synkretismus

Wir schreiben das Jahr 1899, seit elf Jahren ist die Sklaverei abgeschafft, seit zehn Jahren ist Brasilien unabhängig. Die erwähnte Ana ist Teil der einst privilegierten, nun in ihrem Status bedrohten Familie Soares. Der Übergang in die neue Bürgerlichkeit ist nicht leicht in São Paulo, und in der ersten Sequenz von Caetano Gotardo und Marco Dutras Film stirbt die treue schwarze Haushälterin Josefina (Alaíde Costa) und hinterlässt eine Leerstelle im Haus. Ana spielt recht manisch Klavier, die Mutter Isabel (Thaia Perez) bekommt einen Hexenschuss, Anas Schwester Maria (Clarissa Kiste) ist Nonne und hält die Familie, so gut es geht, zusammen, während der Patriarch irgendwo auf dem Landgut kein Interesse am Stadtleben hat.

Maria holt von eben jenem Landgut die ehemalige Sklavin Iná (Mawusi Tulani) und ihren kleinen Sohn João in die Stadt, überredet sie für den Haussegen dazu, ein religiöses Ritual durchzuführen, an das sich Ana so gern erinnert, eine Erinnerung noch aus der Sklavenzeit, als diese Rituale noch verboten waren, weil man Angst vor Aufständen hatte. Zur Not halt irgendwie improvisiert, sagt Maria, irgendeine Performance in eurer Sprache, Hauptsache, Ana erinnert sich. Iná lehrt Maria eine Lektion in Sachen Synkretismus und macht dann doch irgendwie mit. Wie zuletzt Bertrand Bonellos Zombie Child lässt auch All the Dead Ones schwarze Magie im Gewand einer weißen Fantasie auftreten.

Doch noch Untote da

Der Film folgt einer klaren Handlungsstruktur, auch Hélène Louvarts Bilder bleiben geduldig einem Klassizismus verhaftet, der nicht nur wegen des eher altmodischen Portugiesisch an Manoel de Oliveira denken lässt. Ganz allmählich schält sich das Motiv, das hinter dem Titel steht, in den Vordergrund. Ana dreht langsam durch, einmal ist von der Anstalt als letzter Lösung die Rede, aber aus ihrem Wahnsinn spricht eine Wahrheit: Wie der brasilianische Staat, so meinen das Gotardo und Dutra wohl, versucht diese Frau damit klarzukommen, dass es angeblich keine Sklaven mehr gibt, sie aber noch immer schwarze Menschen sieht. Doch noch Untote da, ist Anas tödliche Schlussfolgerung.

Klar ist dieser Film auch eine dringliche politische Intervention in einer Gegenwart, in der sich die gewaltvollen Fundamente der unabhängigen Nation wieder direkter in den politischen Diskurs einschreiben. All the Dead Ones richtet es sich in seinem allegorischen Raum mitunter ein bisschen gemütlich ein, haftet dabei aber dennoch genügend an seinen Figuren, um diese nicht der These zu opfern. Das erste Bild war ein Kaffeesack, das letzte Bild das São Paulo von heute, mitsamt der wahnsinnigen Ana und dem kleinen João. Die Gegenwart Brasiliens als Erbe der Sklaverei, jetzt nochmal in plakativ, vielleicht auch verständlich: Wo Nationen zu neuer Stärke und Reinheit finden wollen, braucht der filmische Widerstand auch mal einen kräftigen Holzhammer.

Den Film kann bei MUBI streamen.

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