All of Us Strangers – Kritik

Neu auf Disney+: Unmöglich zu sagen, ob die zarte Liebesgeschichte zwischen Adam und Harry eine Chance hat. Vor allem weil Adam zeitgleich beginnt, seine verstorbenen Eltern zu besuchen und sie aufzuklären darüber, was es heißt, heute schwul zu sein.

Etwas stimmt nicht in All of Us Strangers. Etwas stimmt nicht im Leben von Adam (Andrew Scott). Er ist einsam, diese Diagnose fällt leicht. Er lebt in einem modernen Apartmenthaus am Stadtrand von London, es ist groß und scheint weitgehend unbehaust. Zumindest, wenn man dem Film traut. Wozu es wenig Grund gibt, denn von Beginn an ist die Stimmung nicht nur mysteriös und angespannt, sondern auch entrückt. Was man und wem man trauen soll, genau darum geht es in dieser irrealen Erzählung, genau darum geht es für Adam, der sich nicht sofort einlassen will auf den Fremden im eigenen Haus, auch weil er sich selbst am allerwenigsten traut. Was bald eine Wendung nimmt, wenn Paul Mescal als Harry nicht nur an die Tür klopft, sondern sich in Adams Leben drängt.

Sich selbst trauen

Harry hat zu viel getrunken, ihm geht es nicht gut, und er ist unwiderstehlich. Das Flirten zwischen den beiden Männern unterschiedlicher Generationen (die Schauspieler jedenfalls trennen 20 Jahre) ist von Scham und Vorsicht und Respekt geprägt. Selten wurde die Begegnung zweier Menschen so zärtlich und hinreißend gezeigt wie hier. Ihre Annäherung entwickelt sich aus der konkreten Dynamik zwischen einem jüngeren Mann, der mit Selbstverständlichkeit nach dem fragt, was er will, und einem älteren, der erst aufgefordert werden muss, seine Begierden zu artikulieren. Alles in ihrem Kennenlernen ist durchdrungen von Ängsten. Das Falsche zu sagen, zu wünschen, zu zeigen. Eine konkrete Erfahrung schwuler Sexualität, in die sich zu versetzen den allermeisten leichtfallen dürfte. Jede Pore dieses Films atmet Empathie: Der Wunsch, eine emotionale Verbindung zu diesen Figuren aufzubauen, ist so zentral, dass darüber die Welt beinahe ausgeblendet wird.

All Of Us Strangers ist ein merkwürdiges Erlebnis. An der Oberfläche, in Gestik und Mimik, scheint Adam so vor sich hin zu leben, ein ordinäres Dasein zu führen. Eines, das wenig Hochs und Tiefs bietet. Das von Einsamkeit geprägt ist und von der Tätigkeit als Drehbuchautor, allein vor seinem Computer, in dessen Tasten er nicht allzu viel schlägt. Adam möchte über seine Eltern in den 1980er Jahren schreiben. Mal liegt er auf der Couch und schaut etwas Fernsehen, dann kifft er, isst geliefertes Essen aus der Aluverpackung und blickt aus dem Fenster auf die Londoner Skyline. Doch dann setzt er sich in den Zug und plötzlich steht er vor dem Haus, in dem er aufgewachsen sein muss. Er zieht ein Foto aus seiner Tasche und vergleicht das Jetzt mit dem Damals. Es ist undramatisch. Aber die Musik von Emilie Levienaise-Farrouch hat es von Anfang an vorweggenommen: Dramatisch wird es bald. Man wartet schon darauf, ja, das Gefühl ist zuerst da, das Konkrete folgt daraus.

Die Gefühle sind zuerst da

Adams Heimatort ist verschlafen, das Haus scheint leer. Er erkundet die Gegend und plötzlich begegnet er einem attraktiven Mann in seinem Alter. Er folgt ihm, als sei er auf der Pirsch, für einen kurzen Moment wirkt das wie eine Szene schwulen Cruisings, ein Anbandeln im Freien. Der Mann kauft Alkohol ein und schlägt ihm dann vor, mit ihm mitzugehen. Auch hier wieder das verlässliche Gefühl, dass etwas nicht stimmt. Der Mann nimmt ihn mit zu sich nach Hause, wo die Ehefrau auf ihn wartet und sich freut, in Adam ihren Sohn wiederzuerkennen. Diese Augen, ja. In einer späteren Szene ist sie baff, wie erwachsen sein Körper ist. Es sind Jahrzehnte vergangen, seit Adams Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen sind.

Großaufnahmen, die alles andere ausblenden, sind zentral für All of Us Strangers. Regisseur Andrew Haigh hat das Drehbuch selbst verfasst, es ist eine lose Adaption von Taichi Yamadas Roman Sommer mit Fremden (1987). Intime Filme hat er bereits vorher gemacht, Weekend (2011), sein vielleicht schönster, bietet in seiner konzentrierten Erzählung einer romantischen Begegnung ein paar Parallelen zu diesem. Und doch ist All of Us Strangers ganz eigen. Im Mittelpunkt steht weniger die Liebesgeschichte als eine Introspektion. Sie ist von Trauer geprägt, von Verlust, und von einer spezifisch schwulen Erfahrung: dass die Akzeptanz durch die Eltern in einer patriarchal eingerichteten (und somit auch misogynen) Welt nie vollends möglich ist. Weil Schwulsein immer auch bedeutet, egal wie maskulin sich jemand gibt, einer Erwartung von Männlichkeit nicht zu entsprechen. Einer Männlichkeit, die sich nicht nur im Begehren für Frauen ausdrückt, sondern genauso in einem hierarchischen Verhältnis ihnen gegenüber. Andrew Haigh erklärt das nicht, sondern lässt es in ein paar ganz einfachen und gerade dadurch mächtigen Szenen aufblitzen, sowohl in der Annäherung zwischen Adam und Harry als auch im Outing gegenüber den lange toten Eltern.

Überwältigung mit Kurzschlüssen

Das Außen, die Welt, auf die sich all die inneren Konflikte, Traumata, Wünsche und Sehnsüchte beziehen, bekommt nur einen imaginären Raum. Es ist eine sehr besondere Anordnung, die den Film gleichzeitig ferner und fremder wirken lässt. Die mitunter abstrakten Anknüpfungspunkte fordern viel emotionale Eigenleistung. Auch wenn die Pet Shop Boys und Frankie Goes to Hollywood mit tollen Musikeinsätzen helfen. All Of Us Strangers ist unbedingt überwältigend, möchte das sein, zielt darauf ab. Szenisch ist das nicht immer vorbereitet oder motiviert. Erzählerisch wagt Haigh Kurzschlüsse, überspringt manche Etappe, teasert Beziehungen an, lässt Erinnerungen nur in kurzen Dialogen aufflammen. Gerade in den so zarten wie aufwühlenden Szenen mit den Eltern setzt er ganz bewusst darauf, dass es primär um das Gefühl geht, nicht um die konkreten Biographien. Doch am Ende kommt es nicht darauf an, ob man dem Film traut oder glaubt, sondern ob man mit ihm sein will.

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