All About Lily Chou-Chou – Kritik
Shunji Iwais kompromissloser Film aus dem Jahr 2001 nähert sich der kultischen Verehrung eines Popstars und beweist in der Rückschau einen enormen Weitblick.

Hierzulande dürfte Shunji Iwai wohl nur eingefleischten Nippon-Kennern ein Begriff sein, in Japan hingegen gehört er zu den wichtigsten Autorenfilmern überhaupt. Der geringe Bekanntheitsgrad Iwais in Deutschland und Europa dürfte auch damit zu tun haben, dass er auf den großen europäischen A-Filmfestivals meist nur eine Randnotiz blieb, im Gegensatz zu Regiekollegen wie Hirokazu Koreeda oder Naomi Kawase erhielt er nie die Chance, um einen Hauptpreis in Berlin, Venedig oder Cannes zu konkurrieren. In seinem Heimatland überzeugte er dagegen schon mit seinem sich vor Kieslowski verbeugenden Kinofilm-Debüt Love Letter (1995) sowohl Kritiker als auch Publikum und gilt seit jeher als Regisseur, der kompromissloses Kino und kommerziellen Erfolg unter einen Hut bringt. Unter Cinephilen gehört neben Yentown (Suwarôteiru, international auch bekannt unter dem Titel Swallowtail Butterfly, 1996) vor allen Dingen All About Lily Chou-Chou zu den Geheimtipps aus Iwais Feder.
Idol, Gottheit und Lebenssinn

Doch wer oder was ist Lily Chou-Chou? Dass es sich um eine Teenie-Popsängerin handelt, wird zwar schon in den Anfangsminuten geklärt, trotzdem geht Iwai mit dieser Frage konsequent-inkonkret um. Die japanische Sängerin Salyu spielt diese Lily Chou-Chou und steuerte auch einige Songs zum Filmsoundtrack bei — tatsächlich wird sie im Film aber nie direkt gezeigt. Selbst in der finalen Konzertszene sehen wir sie nur über eine verpixelte Großleinwand. Es ist nicht die Figur der Lily Chou-Chou – ob als Sängerin oder als Mensch –, der sich Iwais Film über eine Spiellänge von 146 Minuten nähert. Stattdessen lenkt All About Lily Chou-Chou sein Interesse auf die kultische Verehrung eines Popstars durch Jugendliche. Lily Chou Chou ist hier Idol, Gottheit und Lebenssinn in einem. Ihre Musik wird von ihren Fans gar als ätherisch beschrieben. Auch wenn die Kritik an Medienhypes so alt ist wie diese Hypes selbst, gibt es doch eher wenige Spielfilme, die die Hysterie um eine Star-Persona derart explizit ins Zentrum stellen.
Ein doppelter Protagonist

Shunji Iwai hat sich schon in früheren Werken für das Schicksal junger Menschen interessiert. So ging es in Love Letter und April Story (1997) um die erste Liebe in der Schulzeit respektive im ersten Jahr auf der Universität. Auch das Action-Märchen Yentown ist aus Sicht einer jugendlichen Protagonistin erzählt. Aber in wohl keinem anderen Film seines Schaffens verschreibt sich Iwai so vehement dem Coming-of-Age-Motiv wie in All About Lily Chou-Chou. Dabei verteilt der japanische Regisseur seine Handlung gleich auf zwei jugendliche Protagonistenschultern. Der 14-jährige Yūichi (Hayato Ichihara) ist Administrator einer beliebten Lily-Chou-Chou-Fanpage und hält im Internet unter dem Nickname Philia intimen Kontakt zu User Bluecat. Er gelangt eher unfreiwillig unter die Fittiche der zweiten zentralen Figur, des deutlich älteren Shūsuke (Shugo Oshinari), der im Film eine Wandlung vom wohlerzogenen Klassenbesten zum Bully durchläuft. Iwai zeichnet einen ganzen jugendlichen Mikrokosmos und nimmt immer wieder auch episodisch andere Figuren in den erzählerischen Fokus. Themen wie Mutproben, Machtspiele oder das erste vorsichtige Annähern an das andere Geschlecht mögen noch einen universellen Kern haben, spätestens aber bei der Thematisierung von Enjokōsai muss der Zuschauer das moderne Japan samt Mentalität und Bildungssystem als Dispositiv mitdenken. Hier ist Iwais Film auch Milieu-Studie.
Zehn Minuten Blackscreen

Das Hauptanliegen des Regisseurs liegt dennoch nicht im Sezieren japanischer Gesellschaftsstrukturen. Dazu liegen die sozialkritischen Elemente in zu fragmentarischer Form vor und tragödische Spitzen wie der plötzliche Selbstmord eines Mädchens werden nicht als Klimax eingesetzt, sondern gehen im unorthodoxen Erzählfluss des Films förmlich unter. Mal zeigt der Regisseur minutenlang ein scheinbar bedeutungsloses Schulkonzert in Realzeit, nur um dann einen radikalen Zeitsprung zu vollziehen, ohne Bezug zum zuvor Gezeigten. Vieles erschließt sich dem Zuschauer daher eher zwischen den Zeilen (oder eben zwischen den Szenen) und fordert zu weiteren Sichtungen heraus. All About Lily Chou-Chou ist stilistisch äußerst eigenwillig, besticht dabei durch eine anregende Kompromisslosigkeit. Über 30 verschiedene Nebenfiguren werden allein durch die Chat-Nachrichten-Intermissions eingeführt, die User von Yūichis Fanwebsite und Yūichi selbst zitieren. Immerhin etwa zehn Minuten nötigt Iwai den Zuschauer zum Lesen von Black-Screen-Texttafeln. Dabei bleibt offen, ob er diesen endlosen Textreigen als bloße Illustration jugendlicher Gefühlswelten verstanden haben will oder den philosophischen Gehalt mancher Passagen ernst nimmt.
Twitter avant la lettre

All About Lily Chou-Chou ist angesichts seiner Entstehungszeit vielleicht sogar ein wenig visionär, wird doch auch in den offline stattfindenden Szenen sehr viel von der Mentalität der Generation Facebook vorweggenommen. So behandelt Iwai auch das Thema Musikdiebstahl, das heute im Zuge von Urheberrechtsdebatten noch deutlich präsenter ist. Vor allem aber definiert die Musik hier weniger ein subkulturelles Zusammengehörigkeitsgefühl, eher dient es der individualistischen Selbstdarstellung. Die Jugendlichen bilden keine uniformierte Lily-Subkultur und somit kein Kollektiv, viel mehr scheint ihre ständige Konnektivität sie von einander zu entfremden. Und schließlich erinnern auch die zusammenhangslosen Satzbrocken, die die unzähligen Lily-Fans von sich geben, weniger an die Konversationskontinuität der damals häufig genutzten Internetforen, sondern eher an digitale Räume wie Facebook und Twitter, die 2001 noch Zukunftsmusik waren. Iwai interpretiert das Internet allerdings noch – im Gegensatz zum Bild einer gläsernen Gesellschaft in Zeiten von Stalking und Wikileaks – als einen Hort der Anonymität, die er effektiv als Motiv und spannungstreibendes Element einsetzt. Wer ist hier wer? Und was ist hier was? Und wer oder was ist Lily Chou-Chou?
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