A Flower in the Mouth – Kritik
Berlinale 2022 – Forum: Die Poesie des Wartezimmers. Éric Baudelaires A Flower in the Mouth lässt entkräftete Blütenmassen auf die Utopie einer einzelnen Blume treffen, Menschen wie im Walzer durch die Fabrik sliden und ringt noch der größten Gewalt ein Geständnis ab.

Wo soll man beginnen, wenn es kaum einen Anfangspunkt gibt? Wenn hinten und vorne so ineinander verflochten sind, dass das eine irgendwo schon langsam ins andere hinüberfließt und umgekehrt? Vielleicht nur mit einer provisorischen Ordnung, um zu sehen, dass da nie Ordnung war: Dann kommt man A Flower in the Mouth (Une fleur à la bouche) tatsächlich langsam näher, weil Éric Baudelaires Film selbst eine Grenze in seinem Film aufzieht zwischen zwei Bildern, die wie in einem Diptychon getrennt und doch nebeneinander, beieinander, ineinander stehen.
Erst der streng durchgetaktete, maximal effiziente Arbeitsprozess eines Blumengroßhandels in Holland, wo Menschen zwischen den einzelnen Maschinen untergehen, nur einen dürftigen Platz haben: Sie arbeiten im Callcenter, um irgendwelche abstrakten Zahlen herunterzurattern, in der Logistik, um per Scooter Transportwägen umherzuziehen, die sich an anderer Stelle der Produktion schon alleine bewegen, oder müssen ein Fließband inspizieren, das meist eh alles richtig macht. Danach dann eine Pariser Bar und ein langsam sterbender Mann (Oxmo Puccino) am Tresen, mit dem wir vorher schon geduldig Schaufenster und Bahngleise beobachten, der einen wunderschön vor sich hin jammenden Mandolinenspieler vor der Tür ankündigt und seinem Gegenüber (Dali Benssalah) Geschichten und Beobachtungen in einer vor sich hin fließenden, literarischen Sprache vorträgt: über den Hunger nach Leben, über die Poesie von Stühlen im Wartezimmer. Und über Blumen, von denen es zu viele gibt, aber eine einzelne, das muss er zugeben, kann schön sein.
Ein wildwüchsiges Moment

Endloser Arbeitstakt gegen beobachtendes Verweilen, helles Leuchtstoffröhrenlicht gegen die schummrige Wärme einer Bar, eine Sprache in Zahlen gegen die Poesie Luigi Pirandellos, dessen Stück hier Vorlage war: Mit dem poetischen Bar-Setting in Paris lässt A Flower in the Mouth nach der Exkursion in den (un-)menschlichen Arbeitsprozess etwas zu seinem Recht kommen. Etwas, das die instrumentelle Vernunft längst abgeschnitten hat. Ein wildwüchsiges Moment, das sich wehrt gegen die Gleichmacherei der Technokratie. Nicht umsonst wird hier ein Blumengroßhandel in den Blick genommen, wo die schönsten, fragilsten Blüten in allen Farben und Gestalten in ein gleichförmiges und gewaltsames System der Masse eingespeist werden. Blumen, die nicht zuletzt noch die Symbolik der Romantik in sich tragen, jener Epoche, die dem unermüdlichen Prozess der Naturbeherrschung noch einen letzten Rest Unbeherrschbares abringen wollte.
Eine romantische Haltung aber nimmt Baudelaire in der hier aufgerufenen Aufklärungsgeschichte nicht ein. Das zweite Bild ersetzt das erste nicht einfach, sondern ergänzt es, baut die Spannung eines sich wechselseitig durchdringenden Gegensatzpaares auf. Und so sind die beiden Bilder erst da wirklich zu fassen, wo sie schon langsam zu ihrem anderen werden. Da ist das Epitheliom, die tödliche Krankheit am Mund des Mannes in der Bar, die er „Blume“ nennt und die ihn scheinbar in eine eigene Zeitlichkeit verfrachtet, zum Verweilen, Beobachten, Fantasieren, Formulieren bringt. Sein Gegenüber scheint direkt aus dem anderen Bild, aus dem Rhythmus der ratternden Fabrikwelt hierher gewandert: Ein Zug transportierte ihn von Nancy nach Paris, sollte ihn auch wieder zurückbringen, wurde aber verpasst, nachdem er hier ein paar Geschenke gekauft hat, deren Inhalt sich hinter den normierten Verpackungen versteckt. Und im holländischen Blumengroßhandel mögen die Arbeiter vielleicht genauso von ihren Scootern gefahren werden wie die Blumen, doch auf einmal nimmt dieses Sliden durch die Halle auch die Eleganz eines Walzers an.
Utopie in aller Gewalt

Solche kleinen Utopien verstreut A Flower in the Mouth. Versteckt sind sie in den einzelnen Bildern, aufgedeckt werden sie im Laufe des Films, zu dem sie sich verdichten. Einer über die großen Themen des gesellschaftlichen Lebens, die Baudelaire nicht erklärt, sondern vor sich hin wirken lässt. Und da ist auch die Personalie Oxmo Puccino interessant, bei dessen Rolle sein Gegenüber an diesem Barabend einen kleinen Nachholkurs in der Schule der Empfindsamkeit macht. A Flower in the Mouth spielt dabei auf das Narrativ des Magical Negro an: jene Erzählform, die einer Schwarzen Identität eine essenzielle Spiritualität oder Sinnlichkeit andichtet, sie instrumentalisiert, um eine weiße Identität auf den „richtigen Weg“ zu führen. Eine Erzählform als gewalttätige Fantasie, das macht A Flower in the Mouth deutlich, wenn der Mann an der Bar erzählt, dass ihm die Krankheit einfach in den Mund gesteckt wurde.
Es bleibt aber eben nur bei der Anspielung, denn auch der Schauspieler Dali Benssalah verkörpert letztlich keine weiße Figur. So demontiert A Flower in the Mouth nicht zuletzt eine rassistische Fantasie, um gleichzeitig darüber zu reflektieren, welche Aspekte einer rationalistischen Gesellschaft darin ihren brutalen Ausdruck gefunden haben könnten. Selbstverständlich das Machtmittel einer kulturellen Hegemonie, aber wer sich vorstellt, gerettet zu werden, der hat es eben auch nötig: Dann ist die Geschichte vom Magical Negro so etwas wie ein Eingeständnis über die Opfer und Unzulänglichkeiten des Aufklärungsprozesses. Baudelaires Film findet in noch jeder Gewalt ein bisschen Fortschritt, weil er dort länger verweilt, als es der moderne Arbeitsrhythmus verlangt.
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