4 Blocks – Kritik

Babylon ist in Neukölln und Marvin Krens Gangsterepos 4 Blocks die beste deutsche Serie seit Langem. Eine Würdigung zum DVD-Release und zum Free-TV-Start auf ZDF neo.

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Plötzlich wummert es an der Wohnungstür; hinter den Wänden Gepolter und Geschrei, ein geflüstertes Stoßgebet auf Arabisch, und Kalila (Maryam Zaree) presst ihre Tochter an sich und duckt sich tiefer in den Flur hinein. Die Tür öffnet sich, ihr verwunderter Mann (Kida Khodr Ramadan) tritt ein, und weil solche Wiedergaben subjektiver Wahrnehmung so gut wie nie vorkommen in 4 Blocks, versteht man erst etwas verzögert, dass sich die Geräusche nur in Kalilas Kopf abgespielt haben. Die Serie kommt auf diese Szene aus Folge vier nicht mehr zurück und überlässt die Frage den Zuschauern, was die angedeutete Angststörung damit zu tun haben mag, dass Kalila mit ihrer Familie einst aus dem libanesischen Bürgerkrieg nach Berlin flüchtete. Alle Figuren in 4 Blocks agieren in einem pulsierenden Hier und Jetzt, das aber immer wieder zum Resonanzraum ihres Vorlebens wird. Nach den sechs Folgen der ersten Staffel meint man mehr darüber zu wissen, als man auf faktischer Ebene erfährt.

4 Blocks ist kein Tatort

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Um zu ermessen, was der gegenwärtig besten deutschen Serie gelingt, stelle man sich vor, wie ein typischer Tatort (also künftig womöglich alle bis auf zwei im Jahr) sich des Themas eines mafiösen arabischen Familienclans in Neukölln annähme: Man fühlte sich als Außenstehender von einem anderen Außenstehenden bei der Hand genommen, der einem eine Welt beschreiben will, über die er sich selber gerade erst Wissen raufgeschafft hat. In 4 Blocks fühlt man sich von jemandem, der aus ihr kommt, in diese Welt hineingeschubst, vom ersten Moment an mittendrin im geschäftigen Gewusel der in goldenes Licht getauchten Viertel rund um die Sonnenallee an einem glühend heißen Sommertag, wie nebenbei wird man Zeuge eines mit schnellen Schnitten abgewickelten Drogendeals im Park. Wenn die Vorspanntitel vor den Kiezimpressionen nach dem Bruchteil einer Sekunde von arabischen in lateinische Schriftzeichen wechseln – ein verwischter Hauch nur, hat man richtig gesehen? –, scheint diese Welt ihres Publikums gerade im rechten Moment noch gewahr zu werden und den einen nötigen Schritt auf sie zuzutreten.

Im Tatort führten ein engstirniger und ein verständiger Cop einen ans Publikum gerichteten Dialog über soziale und politische Hintergründe; der eine würde Clanchef Ali „Toni“ Hamady (Ramadan) verdammen und der andere erklären, warum der’s trotz allem auch nicht leicht hat. Die Cops in 4 Blocks würden den Teufel tun. Und die Autoren Hanno Hackfort, Richard Kropf und Christoph Bob Konrad dürften gewusst haben, dass der gesamte Flucht-Migrations-Integrations-Komplex ohnehin die ganze Zeit als Diskurselefant im Raum steht (schon das Triggerwort „Neukölln“ reicht dafür) – und lassen ihn dann eben auch schulterzuckend dort stehen, schwören das Publikum mit seinen garantiert disparaten Erfahrungs- und Vorurteilshorizonten rhetorisch auf keine öffentlich-rechtlich sedierte Sichtweise ein, sondern setzen ihm die Binnenwahrnehmung der Familie Hamady, ihren Blick auf sich und ihr Terrain ungerührt vor.

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Und ihr Terrain, das ist die Gegend, in der die Hamadys ihre Geschäfte machen, durchaus. Die titelgebenden vier Blocks stehen sinnbildlich für Mädchen, Casinos, Koks und Schutzgeld; die Hauptkonkurrenz auf dem Drogenmarkt, die Rockergang der Cthulus, sollen mit ihrem Crystal mal schön im Wedding bleiben, und die Hipsterkneipen, die sich neuerdings zwischen Shishabars und verqualmten Hinterzimmer-Cafés einnisten, sind allenfalls als Aufhängorte für Spielautomaten geduldet. Eine Heimat indessen, ein Ankunftsort wollte diese Stadt für die fließend Deutsch sprechenden Libanesen bis heute nicht werden; auf eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung warten Toni und Kalila seit 27 Jahren.

Porträt eines Neuköllner Unternehmers

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Toni spricht Sätze, die besorgten Bürgern das Fürchten lehren („In Berlin redet man jetzt Arabisch“) und solche, die von ihnen stammen könnten („Drecksmultikulti“, „Jeder Asylant hat mehr Rechte als ich“). In seiner Figur durchkreuzen sich Linien der Tradition und der Moderne, der Assimilation und der Segregation, des Leistungsethos und der Gewaltherrschaft. Als Geschäftsmann hat er für eine den Müßiggang feiernde Erzählung wie Bölls Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral nur Verachtung übrig und wahrt im Zweifel lieber einen kühlen Kopf, als die Familienehre zu verteidigen. Religiöse Folklore an den Zimmerwänden seiner Altbauwohnung und auf Begräbnissen ist ihm wichtig, doch noch im Kaftan ermutigt er seine kleine Tochter gegen einen archaischen Sittenkodex zum Fahrradfahren. In alledem verkörpert der Protagonist von 4 Blocks weniger einen „kriminellen Araber“ als eine deutsch-libanesische Variante eines pragmatisch-konservativen Gangster-Unternehmertums, wie es sich auch in italoamerikanischer Variante in New Jersey oder afroamerikanischer in Baltimore (to be continued …) antreffen ließe.

Was Toni auszeichnet, ist seine beinah in jedem Moment durchscheinende Sehnsucht nach einem ruhigen Leben, und Kida Khodr Ramadan gelingt es, dem vollbärtigen Mann weiche und traurige Züge zu geben, ihm etwa glaubhaft versichern zu lassen, kein Mörder werden zu wollen, ohne ihn dabei zu verharmlosen. Seine Bereitschaft zum Einsatz von Gewalt und Folter – und ein paar der blutigsten Szenen der an blutigen Szenen nicht armen Serie gehen auf sein Konto – und seine furiosen Wutausbrüche nimmt man ihm genauso leicht ab.

Im Scherz gibt Toni einmal „Bürgermeister von Neukölln“ als Joboption für einen legalen Lebensentwurf an – ein migrantischer Mobster in Buschkowskys Fußstapfen, auch so ein Joke im Vorübergehen. Im Ernst schwebt dem des Verbrechens müde gewordenen Familienvater eine gentrifizierte Existenz als Immobilienbesitzer vor, ein noch baugerüstverkleidetes Mietshaus, bei Nacht aufgesucht, ist als Sehnsuchtsort eine der Landmarken in der Stadtlandschaft von 4 Blocks. Doch an der Schwelle zum ersehnten deutschen Pass wird Toni aus drei Richtungen von Unheil heimgesucht: Sein Bruder Abbas (Veysel Gelin) gerät außer Kontrolle, ein Bandenkrieg mit den Cthulus zieht herauf, und sein wiederauftauchender alter Freund Vince (Frederick Lau), dem er schon bald „bis zum Tod vertraut“, ist ein verdeckter Ermittler.

Die „Familie“ als destruktives System

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„Ich schlag mich nicht nur mit Feinden, sondern auch mit Freunden“, rappt Issam (Emilio Sakraya), einer von zwei jungen Dealern aus der Hasenheide-Infanterie, und beschreibt damit die Grundsituation fast jeder Figur. Die von den Hamadys ständig beschworene „Familie“ ist vor allem Drohkulisse, ein entsolidarisiertes Netzwerk, in keinem Moment verwirklichte Gemeinschaft, selbst in zeremoniellen Zusammenkünften ein Kräftemessen, auch ein gemeinsames Essen endet im brüderlichen Gerangel auf dem Balkon. Ob Toni, sein ums leadership konkurrierender Bruder oder sein zwischen den Stühlen stehender (und bald im Gefängnis sitzender) Schwager, ob ihre Gattinnen – ihren Männern gegenüber und untereinander –, ob die beiden aufstiegswilligen Nachwuchs-Checker im Park, jeder sieht sich jedem anderen gegenüber zur Selbstbehauptung gezwungen und immer wieder der Gefahr der Demütigung und des Verrats ausgesetzt (was paranoid macht, aber sich oft auch als begründet erweist). Was wiederum auch für die „Familie“ als Akteur gegenüber ihren Opponenten gilt – und all das setzt eine Bewegung in Gang, die über sechs Folgen hinweg das System, das Toni vor seinem Rückzug noch einmal zusammenhalten wollte, in immer schnelleren Schüben auf den Abgrund zutreibt.

Als stärkste destruktive Antriebskraft fungiert dabei Abbas, der, wie das bei antagonistischen Gangsterbrüdern so ist, den Geruch der Straße nicht loswerden will, sondern stolz ist auf sein Verbrechertum. Dabei muss er den beanspruchten Alphastatus aber stets vorwärtsverteidigen, noch in den eigenen vier Wänden und gegenüber seiner bitchy Frau Ewa (die als Polin in dieser Community ihre eigenen Statuskämpfe auszutragen hat). Was seinen massigen Körper in Goldunterhose schon mal erschöpft in die Couch sinken lässt, ihn aber die meiste Zeit brandgefährlich macht.

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Tonis zweiter Widerpart, sein vermeintlich loyaler alter Freund Vince, wird mit Aufnahme in die Familie sogleich ein beschleunigender Teil dieses Systems. Als Polizist steckt er seinerseits in einem dysfunktionalen Apparat – der mit nur wenig Strichen ein gänzlich anderes Bild zeigt als ein Tatort –, mit wahlweise überambitionierten, gleichgültigen oder korrupten Kollegen, die sich einig höchstens in der Aussichtslosigkeit ihres Kampfes sind, deren Agieren immer wieder fatale Rückkopplungen auf seine Lage hat. Als prototypischer einsamer Bulle, ohne Frau und Familie, nur notdürftig behaust in einer stets vom heulenden Wind durchzogenen Dachterrassenwohnung, ist er von Anbeginn ein Verlorener, wie prädestiniert für ein Himmelfahrtskommando.

4 Blocks und das Posenrepertoire des Gangsters

4 Blocks ist ein archetypisches Gangsterepos, das von der Verteilung der Karten bis zum Ende unter dramatischem Hochdruck steht. Es gibt einige leise Momente, aber keine Sequenz, die nicht im Dienst der unerbittlich zum Ende vorangetriebenen Erzählung steht (Tschechows Gewehr ist hier eine in einem Kühlschrank versteckte Pistole), und in dem hochfunktionalen Plot bleibt relativ wenig Zeit, die Figuren einmal aus den für sie vorgesehenen Bahnen herauszulösen, stattdessen vollziehen sie darauf manchmal ziemlich rasche Sprünge vorwärts: etwa bei Vince’ Einschleusung als Undercovercop oder seiner schon mit dem ersten Blickwechsel in der Bäckerei festgezurrten Romanze mit Tonis Schwester Amara (Almila Bagriacik). Doch weil die Serie dabei stets der Situation und der Schauplätze gewärtig bleibt, den Augenblicken verhaftet – unter anderem ist 4 Blocks auch eine Erkundung des Taxierens, Blickhaltens und Vorbeischauens –, kann sie hier mit einer fast immer den richtigen Ton findenden Stimmung manches überspielen.

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Wer will, kann an jeder Ecke Vorbilder und Einflüsse aus berühmten US-Serien finden. So erinnert etwa gleich die Eröffnung, in der zwei Cops von den Balustraden der Neuköllner High-Deck-Siedlung beworfen und beschimpft werden, an eine Szene aus The Wire, ein in Stand-off-Manier abgewickelter Drogendeal bei einem Ausflug jenseits der holländischen Grenze ruft Breaking-Bad-Szenarien wach, und die Sopranos-Reminiszenzen – vom Spitznamen „Toni“ bis zu den einschlägigen Tabledancebar-Meetings – durchziehen die gesamte Serie. Doch wirkt all das nicht wie aus dem Zitat-Zettelkasten hineingepfercht, es sind dem Erzählraum eingespeiste Settings, die man zur rechten Zeit am rechten Ort vorfindet. Das Team um Regisseur Marvin Kren hat schon in den Horrorfilmen Rammbock (2010) und Blutgletscher (2013) ein Gespür dafür gezeigt, klassische Genreplots in damit sonst oft fremdelnde heimische Umgebungen – etwa eine Zombieinvasion in einen Berliner Altbau – förmlich einzuschmelzen.

Natürlich ist das alles, wie einige Kritiken bereits monierten, beileibe nicht frei von Klischees. Aber was heißt das schon dort, wo das Posenrepertoire des filmischen Gangstertums ein essenzieller Teil der Kommunikation ist. „Wollt ihr einen auf Mafia machen?“, raunzt Abbas seine zwei jungen Rekruten an, gerade so als ob er nicht selbst mit jeder Geste und jedem bohrenden Blick selbst darauf machte. Auch dank des punktgenauen Type-Castings wirken die Figuren in ihren Klischees glaubhaft, und wenn Abbas im Auto den vermeintlich extradiegetisch laufenden Hip-Hop-Track plötzlich mitrappt, als höhnische Drohgebärde an seinen Beifahrer, muss man, um den Wechsel der Ebene stimmig zu finden, nicht einmal wissen, dass es sich um ein eigenes Stück des Darstellers handelt und dass der wiederum eine einschlägige kriminelle Vita vorzuweisen hat.

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Aus welchen Töpfen die Figuren ihre Identitäten zusammensetzen, das ergibt dann eben auch oft einen faszinierenden Mischmasch – bei Zeki (Rauand Taleb) etwa, den mit nacktem Oberkörper durch die Hasenheide wieselnden Bonsai-Krieger, der mit seinem Kumpel in distinkten Hip-Hop-Welten schwelgt, seine leibliche Familie für ihre Unterwürfigkeit gegenüber den Deutschen verachtet und als glühender Thomas-Müller-Fan ein Trikot der deutschen Fußballnationalmannschaft hat. Die Religion ist unter diesen Identitäts-Töpfen ein zwar nicht unwichtiger, aber oft abseits vom Gemeinplatz aufgestellter. In dem Zuge, in dem etwa Kalila, wie man so sagt, im Glauben Halt findet – den Koran mit ins Bett nimmt, bald wieder das Kopftuch anlegt –, tritt sie ihrem Mann gegenüber eher härter und selbstbestimmter auf, beginnt den „Familien“-Mythos als Märchen zu entlarven. Dass mit Tonis Schwester Amara die einzige weibliche Hauptfigur, die durchweg Kopftuch trägt, zugleich die emanzipierteste ist, ist dann aber vielleicht doch ein Windhauch von Pädagogik in 4 Blocks.

An den Rändern diffundiert der Erzählraum ins Grobkörnigere; den in ihren inneren Antagonismen ausgefalteten Systemen der Hamadys und, flüchtiger, der Polizei steht so die lupenrein böse Welt der Rockergang gegenüber; benannt nach einem Lovecraft’schen Schreckenswesen, schwarzbehelmt aus dem Nichts auftauchend, mit einem martialischen, Frauen misshandelnden Ungetüm von Anführer (Ronald Zehrfeld); ihre in blaues oder oranges Horror-Zwielicht getauchten Vereinsräume werden mit voranschreitender Showdown-Beschleunigung zum Ort des Schreckens und des Blutopfers. Auf der anderen Seite wären da etwa die afrikanischen Dealer-Fußsoldaten in den Berliner Parks, von denen wir – außer dass die Türken- und die Araber-Gangs um ihre Dienste rangeln – praktisch nichts erfahren. Natürlich steckt in den Vernetzungen des organisierten Verbrechens, in dem die Hamadys nur einen Knotenpunkt bilden, auch weit mehr Stoff, als ein doch recht komprimierter Sechsteiler unterbringen könnte, und man kann durchaus gespannt sein, in welcher Richtung die Folgestaffeln da Ausschau halten werden.

Letzte Weichenstellung

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Im Angesicht des Verbrechens fällt die Kamera oft auf Frederick Laus abwartend-prüfenden, die Entwicklung konzentriert scannenden Gesichtsausdruck, in dem sich für den eingeweihten Zuschauer die Lage-Evaluierung des Gangmitglieds und die des Cops stets überlappen. Einen Gutteil ihrer Spannung (und spannend ist 4 Blocks von der ersten bis zur letzten Minute) gewinnt die Serie daraus – hierin sehr ähnlich verfahrend wie oben genannte US-Serien –, uns als Zuschauer in dieselbe unkomfortable Lage zu bringen, unsere Evaluierungsroutinen zu stressen, sodass wir nicht nur um Wohl und Weh von Figuren bangen, deren Handeln wir nicht gutheißen, sondern ihr Handeln im selben Moment auf einer Ebene richtig und auf einer anderen falsch finden, sie im Augenblick des Mitfieberns verfluchen können. Toni und Vince – mit einigen Abstrichen auch Abbas – sind dann für uns nicht nur nicht „eindeutig gut oder böse“ (darüber sind auch die besseren Tatorte schon hinaus), auch nicht nur „ambivalent gezeichnet“ (darin klemmen die meisten denn doch noch fest), sondern von den realen Widersprüchen, die an ihnen reißen, in ihrem Handeln angetrieben. So bleibt es bis zum letzten Moment, in dem einer der drei, während sich das musikalische Hauptmotiv zum Crescendo steigert, vor einer Entscheidung steht, die die Weichen für die Zukunft der Familie und für die Fortsetzung unwiderruflich stellen wird. Wir wollen ihm in unseren Sesseln, sofern es uns darin hält, „Tu das nicht!“ zurufen, obwohl uns der Groll und die Trauer, die’s ihn tun lassen werden, selbst fast zerreißt.

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