20.000 Arten von Bienen – Kritik

In ihrem Spielfilmdebüt erzählt Estibaliz Urresola Solaguren von der Identitätssuche eines Kindes – und von drei Frauen, deren Stiche eine heilende Wirkung haben.

Die Sonne steht hoch über dem katalanischen Dorf, als eine Familie aus dem Auto steigt. Ane (Patricia López Arnaiz) ist mit ihren Kindern zur Taufe eines Neffen in ihren Heimatort zurückgekehrt. Dort trifft sie ihre Mutter Lita (Itziar Lazkano), eine treue Katholikin, von der sich Ane entfremdet hat. Und da ist Großtante Leire (Sara Cózar), die nebenbei als Imkerin arbeitet. Ane hofft, dass im ländlichen Idyll die Körper-Dysmorphie ihres Kindes Coco (Sofía Otero) ein wenig zur Ruhe kommt. „Warum wisst ihr denn, wer ihr seid, und ich nicht?“, fragt Coco sie – eine denkbar einfache Frage, die aber schwer zu beantworten ist. „Bei uns gibt es keine Jungs- oder Mädchensachen“, wiederholt Ane ihr Mantra. Ane versucht, Lucía ohne strenge Gendernormen großzuziehen. Und auf den ersten Blick ist das ein nobler Ansatz. Doch Coco kann und möchte sich die Unterschiede nicht wegdenken. Während Ane ihr Kind vom Schubladendenken befreien will, öffnet dieses Kind eine Schublade und zieht ein Kleid heraus.

Liebe schenken, Überzeugungen hinterfragen

Denn Coco, die gestern noch Aitor hieß, möchte nicht mehr so genannt werden; ihr richtiger Name ist Lucía. 20,000 Species of Bees erzählt von einem katalanischen Sommer und der Identitätssuche eines Kindes. Er erzählt auch von Frauen aus drei Generationen, die zum Wohle des Kindes zusammenfinden müssen. Wie die titelgebenden Bienen, die Lucías Tante als Imkerin hält, nimmt jede Frau eine bestimmte Rolle im Familiengefüge ein, will Lucía auf eine eigene Weise Liebe schenken und muss in den daraus entstehenden Konflikten die eigenen Überzeugungen hinterfragen. Doch wie bei den Bienen wohnt den gegenseitigen Stichen der Frauen eine heilende Wirkung inne.

Ane nutzt ihr Mantra auch, um ihre eigenen Unsicherheiten zu verstecken. Und Urresola Solaguren nutzt Lucías Identitätssuche, um Ane mit ihrer eigenen Familienhistorie zu konfrontieren. Ane ist bildende Künstlerin und arbeitet verbissen an einem neuen Projekt. Dadurch versucht sie sich auch von ihrem verstorbenen Vater loszulösen, der im Ort in Verruf geraten war, weil er Aktfotos von den Mädchen des Dorfes schoss. Es werden Blicke implementiert: Der männliche Blick des Vaters auf den weiblichen Körper. Anes Umdeutung ihres Blicks auf ihren eigenen Körper. Die Absicht, einen neuen Blick an ihre Kinder weiterzugeben. Und dahinter die Frage, ob sie all das überhaupt kontrollieren kann.

Halt geben und Raum lassen

Das Herz des Filmes sind die Beziehungen zwischen den Frauen. Am erstaunlichsten ist die Darbietung der jungen Sofía Otero, die Lucías komplexe Emotionen erstaunlich greifbar macht, und es Urresola Solaguren erlaubt, ihre Geschichte selbstsicher aus den Augen der jungen Protagonistin zu erzählen. Gerade die Interaktionen zwischen Lucía und ihrer Mutter besitzen durch ihre Kleinteiligkeit dramatisches Gewicht. Auf der einen Seite steht ein Kind, das seine Gefühle teilweise noch nicht artikulieren kann und verbal um sich schlägt, auf der anderen Seite eine ratlose Mutter, die ihrem Kind gleichzeitig Halt geben und Raum lassen will.

20,000 Species of Bees kommt aber nicht ganz umher, sich an den Motiven vergleichbarer Coming-of-Age-Stoffe zu bedienen. Bei einem Film über Identität dürfen natürlich die gewichtigen Blicke in den Spiegel nicht fehlen. Und obwohl das Repertoire von Filmen über gender-diverse Kindheit noch verhältnismäßig klein ist, fühlt sich ein geblümtes Kleid als Bedeutungsträger schon irgendwie platt an – vielleicht auch weil erst letztes Jahr Florian David Fitz mit Oskars Kleid eine sehr ähnliche Metapher gewählt hat. Effektiver sind die Momente, in denen der Film auf solche Bilder verzichtet und die Drastik der kindlichen Logik berücksichtigt. Etwa wenn ein Mädchen skeptisch Lucías Körper mustert und dann trocken zu dem Schluss kommt, sie habe in ihrer Klasse ja auch einen Jungen mit einer Muschi.

Als der Konflikt schließlich von der familiären auf die gesellschaftliche Ebene verlagert wird, muss der Film seinen Blick vom Kleinen auf das Große erweitern: „Das ist bestimmt alles nur eine Phase“ ist nach anderthalb Stunden intimen Familiendramas beinahe der langweiligste Satz. Natürlich lässt sich eine Trans-Geschichte kaum ohne die gesellschaftlichen Widerstände erzählen, aber darin liegt nicht die Stärke von 20,000 Species of Bees. Viel eindrucksvoller ist Urresola Solagurens Film, wenn sie mit Lucía einen Stein ins Wasser wirft und geduldig die Wellen beobachtet, die sich durch die Familie ziehen.

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