Karlovy Vary 2014: Sehtagebuch (1)
Midnight Movies mit Caipirinha, Sandwiches mit Menschenfleisch und Speed am Konzertflügel: Notizen zum Festival.
It Follows (Regie: David Robert Mitchell; USA 2014)

Ich hatte mir vorher wenig Gedanken darüber gemacht, was das „Midnight Screening“ eines Genrefilms bedeuten könnte auf einem studentisch geprägten Festival, bei dem sich schon tagsüber große Schlangen an den Bierzelten vor dem Hauptgebäude bilden, bei dem man im zweitgrößten Saal in leisen Szenen den ewigen Techno-Beat von draußen vernimmt und sich das Schlangestehen mit Caipirinhas versüßt. Die Stimmung im Saal ist schon vor Filmbeginn, nun ja, gelöst. Nicht, dass mich das gerade stören würde. Geschafft von der Anfahrt, frustriert von geradezu böswilligen Fußballergebnissen, ist es mit der Konzentration eh nicht so weit her. Und manchmal, da führt die vermeintlich respektlose Lautstärke im Kino ja auch nicht zu einem Ärgernis, sondern tatsächlich zu einer anderen, weil lustvollen Rezeptionserfahrung, die dem Film eher etwas gibt denn etwas nimmt. Hier passiert nun beides. Während drei Reihen vor mir das mit ausgestellter Drübersteh-Attitüde vorgetragene Gekicher dem auf der Leinwand ablaufenden Horror den Schrecken eher nimmt, sitzt direkt neben mir eine junge Dame, die während der Schockmomente so laut kreischt, dass sie den Spuk für mich noch intensiviert. Zum Film selbst hat der werte Kollege Josef Lommer gerade erst geschrieben, auch mich fasziniert, wie Coming of Age und Horror hier auf radikale Weise verschränkt werden, wie sich der Fleisch oder eher Geist gewordene Todestrieb ins jugendliche Begehren einmischt. Suspense ergibt sich dagegen aus einer eher klassischen Reihe von Konfrontationen zwischen der Heldin und dem Bösen, die ganz ohne Schnickschnack über Distanz, Geschwindigkeit und Kraft ausgetragen werden.
Low Down (Regie: Jeff Preiss; USA 2014)

Vielleicht kann Elle Fanning gar nicht mal viel dafür, dass wir ihr die Rolle als Tochter eines Jazzpianisten im Los Angeles der 1970er Jahre nicht so recht abkaufen. Ihr Vater wird dagegen gespielt von einem großartigen John Hawkes, aber das Problem sind weniger die unterschiedlichen Schauspielvermögen – das Problem ist vielmehr schon in den Figuren angelegt. Wo Hawkes ganz Körper ist – Zuckungen am Klavier, Drogen-Eskapaden, Zerrissenheit in der Mimik ohne dialogische Überformung –, ist Fanning ganz körperlose Perspektive – das arme Kind, das sich in der Welt behaupten will, das den Vater für seine Musik bewundert, für seine Drogen verabscheut. Beiden fehlt das jeweils andere Element. Hawkes’ Zerrissenheit lässt den Film selbst kalt, trotz seines zurückgehaltenen und doch intensiven Spiels kriegen wir die Figur kaum zu greifen. Und Fanning fehlt die Körperlichkeit jenseits der traurigen Mädchenaugen, sie verstehen wir zwar, aber nur so, wie wir leidende Jugendliche eben verstehen. Low Down beruht auf der Autobiografie der Tochter von Pianist Joe Albany, und sein Titel ist Programm. Zu lachen gibt’s hier wenig, dafür umso mehr Trostloses. Der körnige 16mm-Look ist deshalb auch nicht leidenschaftliche Ästhetisierung, sondern nur langweilige Entsprechung. Karges Leben in Brauntönen, nach dem Absturz ist vor dem Absturz in den düsteren Siebzigern – und die erbarmungslose Länge von knapp zwei Stunden trägt nicht gerade zur Versöhnung mit diesem kalkulierten Runterzieher bei.
Cannibal (Caníbal; Regie: Manuel Martín Cuenca; Spanien 2013)

Der Griff zum Küchenmesser kommt zwar recht schnell, aber mehr als ein bisschen Blut bekommt man hier nicht zu sehen. Der Filmtitel ist ganz wörtlich gemeint, Carlos ist Kannibale, aber Cannibal hat wenig zu tun mit Gewaltorgien. Seine Horrorszenen sind psychologische, wenn Carlos etwa ein Sandwich mit lecker Menschenfleisch zu sich nimmt. Dass diese Neigung eine durchaus lustvolle sei, eine irgendwie geartete Form von sexueller Sublimierung oder sogar Liebe, reibt Cuenca uns ziemlich unter die Nase: Seine Opfer sind bevorzugt junge Frauen, eine Freundin hat er noch nie gehabt, und laut seiner Mutter wird sich das auch nicht ändern, beruflich schneidert er mit großer Akribie feine Anzüge. Charakterstudie nennt man das wohl, aber beizeiten wünscht man sich fast ein bisschen Splatter, so unnachgiebig und konzentriert verbleibt Cuenca an der Oberfläche – und verlässt sich dabei ein bisschen zu sehr auf die Prämisse des Kannibalen von nebenan. Doch an der Oberfläche passiert schließlich doch eine ganze Menge, nachdem sich eine schöne Nachbarin in Carlos verliebt und seine Nähe sucht. Am Ende entsteht dadurch eine Art romantische Suspense, die ein gerechter Lohn für den manchmal mühsamen Minimalismus des Films ist.
The Way We Were (Regie: Sydney Pollack; USA 1973)

Barbara Streisand hält als überzeugte Kommunistin Katie kampfeslustige Reden, Robert Redford schreibt als wohlhabender Student Hubbell einen Essay mit dem Titel „The All-American Smile“. Katie muss das Lächeln erst noch lernen. Ihre politische Haltung ist in den späten 1930er Jahren kein Problem des Inhalts, sondern der verklemmten Form. Humorlosigkeit ist unamerikanisch. The Way We Were ist ganz nebenbei auch eine Geschichte US-amerikanisch-sowjetischer Beziehungen. Die zweite Zeit-Ebene beginnt in den letzten Jahren des Krieges, in denen sich das Große im Kleinen spiegelt und auch Katie und Hubbell nun alliiert sind. Katie kann auch lächeln mittlerweile. Doch weil sie ihren politischen Eifer nicht abgelegt hat, steht die Beziehung unter keinem guten Stern, das Politische hört nicht auf, in das Intime zu drängen. Sydney Pollack wollte seinem Buddy Redford mehr Platz einräumen als im Script von Arthur Laurents vorgesehen.Trotzdem ist mir Katies Rigorismus im Vergleich zu Hubbells Passivität ungleich sympathischer – und während der McCarthy-Krise erscheint sie auch weniger verbissen als er feige. Vor allem hat das mit den Darstellern zu tun: Redford ist langweilig, Streisand ist wundervoll. Ihre Figur kennt die 1970er noch nicht, ist aber trotzdem ganz Kind dieser Zeit, transportiert sie doch nicht zuletzt das Post-68er-Bild der emanzipierten Frau, der politische Fragen auch mal wichtiger sind als privates Klarkommen. Das Kino der New-Hollywood-Ära ist schließlich weniger deswegen spannend, weil hier ein paar junge wilde Männer mal so richtig auf den Putz hauen konnten, sondern weil der politische Dissens und die gesellschaftlichen Konflikte der Zeit sich auf mal mehr und mal weniger deutliche Weise in Narrative und Ästhetik einschlichen. The Way We Were entschärft die Sprengkraft dann wieder, indem er Streisand und Redford zwar kein Happy End, aber die dem Dissens eigentümliche Harmonie schenkt: They agree to disagree.
Adventure (Priklyuchenie; Regie: Nariman Turabaev; Kasachstan 2014)

Zu Beginn wünscht Regisseur Turabaev dem Publikum viel Vergnügen, sein Film erzähle eine sehr schlichte Geschichte. Drohung oder Versprechen? Ein bisschen von beidem, denn auch wenn Adventure insgesamt wohl einfach zu harmlos ist, um länger im Gedächtnis zu bleiben, liegt das weniger an der Schlichtheit der Handlung als an der Inszenierung. Die schlichte Geschichte ist zudem eine bekannte und vom Kino häufig aufgegriffene: Dostojewskis Weiße Nächte. Turabaevs Version dreht sich um einen jungen Nachtwächter, der eine geheimnisvolle Frau kennenlernt. Die Nächte sind hier in der Tat weiß, viel zu weiß. Ein Großteil des Films spielt sich letztlich in hell erleuchteten Innenräumen ab, weswegen ihm das Nächtliche und damit auch das Atmosphärische fast völlig abgeht. Es gibt durchaus schöne Momente in Adventure, und ich frage mich irgendwann, ob ich mir mehr oder weniger in diesen Film hineinwünsche. Auf die zwangsoriginellen humoristischen Auflockerungen hätte ich jedenfalls gut verzichten können, auch wenn diese den meisten Zuschauern am besten zu gefallen scheinen.
Grand Piano (Regie: Eugenio Mira; Spanien 2013)

Der zweite Abend endet mit einem ziemlichen Debakel. Das ahne ich schon, als Eugenio Mira beim Interview vor dem Screening erzählt, wie er über ein geiles Script gestolpert ist, das er unbedingt verfilmen wollte, wie er wenig später zufällig Elijah Wood kennengelernt hat und die beiden sich beim betrunkenen Karaoke so gut verstanden haben, dass Wood die Hauptrolle übernommen hat. Also gibt der gute Elijah hier einen jungen Starpianisten, der während eines Konzerts die Nachricht übermittelt bekommt, dass er auf der Stelle erschossen wird, sollte er nur einen falschen Ton treffen. Der kreative Höllentrip wird aber zu keiner Zeit filmisch zugespitzt, Mira ist viel zu sehr damit beschäftigt, die Sequenzen in belanglose Einstellungen zu zerschneiden und eine hanebüchene Story um das Konzert zu spinnen. Erst zum Ende hin entwickelt Grand Piano ein wenig Trash-Potenzial, vorher staunt man eher, wie man aus einer derart grandiosen Prämisse derart wenig machen, wie man aus so viel potenzieller Spannung so wenig Spektakel herausholen kann.
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