Novemberkind – Kritik
Es gibt sie noch, die guten Debütfilme: Christian Schwochows Novemberkind mit einer überragenden Anna Maria Mühe ist ein erstaunlich reifes Melodram über die langfristigen Folgen einer Flucht aus der DDR.

Der Künstler ohne eigene Imagination ist eine dem Vampir verwandte Figur, jemand, der sich von anderen ernährt. Robert (Ulrich Matthes) lehrt in Konstanz kreatives Schreiben, eine Tätigkeit, die Handwerk ist und doch Kunst sein will. Gleich zu Beginn von Novemberkind sagt seine Freundin (Juliane Köhler in einer Nebenrolle) zu ihm: „Du bist kein Schriftsteller.“ Robert aber hat es sich in den Kopf gesetzt, endlich sein erstes Buch zu schreiben. Die Geschichte, die er erzählen will, entspringt jedoch nicht seiner Fantasie, sondern ist ihm quasi über den Weg gelaufen. Sie gehört jemand anderem, der jungen Inga (Anna Maria Mühe), und sie handelt von einer tragischen Liebe in der DDR-Provinz, von einer Flucht in den Westen und von einer tot geglaubten Mutter.
Robert reist von Konstanz nach Mecklenburg, um diesem vor mehr als 20 Jahren geschehenen Drama auf die Spur zu kommen. Dabei weiß er mehr als Inga, und er weiß auch mehr als der Zuschauer – was dem Film mit ganz klassischen Mitteln eine Spannung verleiht, die hier nicht aufgelöst werden soll. Verraten sei nur so viel: Robert belügt und manipuliert Inga, um das, was er selbst nicht erfinden kann, von ihr zu bekommen. Er liest heimlich ihre Briefe, murmelt klischeebeladene Formulierungen in sein Diktiergerät und versucht schon vom Hotelzimmer aus, die Geschichte meistbietend zu verhökern.

Es ist ein bisschen schade, dass Christian Schwochow sich für seinen Abschlussfilm an der Filmakademie Baden-Württemberg nicht mehr auf diese Figur konzentriert hat. Allzu früh wird Robert von Gewissensbissen geplagt, und schon bald hängen die Worte „Schuld“ und „Lüge“ an der Wand über seinem Schreibtisch, an die er die Struktur seines Romans gepinnt hat. Zu solch überdeutlichen Fingerzeigen neigt der Regisseur ansonsten nicht, ganz im Gegenteil. Novemberkind erzeugt eine so intime, beanspruchende und visuell überzeugende Atmosphäre, dass man erstaunt sein muss über die Sicherheit, mit der ein gerade 30-Jähriger sein Debüt vorlegt. In einer Zeit, in der Filmschaffende immer wieder verbittert über die auf das Kino übergreifende ästhetische Macht des Fernsehens klagen, nimmt Schwochow sich die Zeit und macht sich die Mühe zu richtigem Kino.
Eine Szene zwischen Robert und seinem Verleger nimmt er aus der Untersicht auf, wodurch der hagere Autor neben dem bulligen Geschäftsmann wie ein Zwerg wirkt. Mit einer Farbpalette aus Blau, Grau und Braun, mit großen Bildern leerer Landschaften und mit oft an den Rand der Mise en scène gedrängten Figuren gestaltet Schwochow ein Melodram im besten Sinne des Wortes. Klar getrennt davon die zweite Ebene des Films: In den (vielleicht etwas zu zahlreichen) Rückblenden, die in die Jugend von Ingas Mutter führen, wird die Leinwand gelb, hell, grobkörnig und mit starken Kontrasten überflutet. Die Übergänge zwischen den einzelnen, zu Anfang unübersichtlichen Teilen sind so geschickt montiert, dass die Motive mühelos ineinandergreifen und schließlich ein Ganzes ergeben. Anna Maria Mühe spielt in beiden Zeitebenen die Hauptrolle, und sie wechselt souverän zwischen der naiven Anne in der DDR der achtziger Jahre, die sich in einen desertierten russischen Soldaten verliebt, und der bodenständigen Inga von heute, die sich im menschenleer-mecklenburgischen Dorf zwischen Frauenchor und der kleinen Bücherei, in der sie arbeitet, pudelwohl fühlt. Aus dem schönen, ausdrucksstarken Gesicht der Schauspielerin kann man auch immer eine Erinnerung an die Züge ihres im vergangenen Jahr verstorbenen Vaters Ulrich Mühe lesen.

Anders als andere Filme zum Thema Republikflucht (Mit dem Wind nach Westen, Night Crossing, 1981) schildert Novemberkind nicht den aktionsgeladenen Akt an sich, sondern die Konsequenzen, die daraus erwachsen – sowohl für die Geflohenen, die ihre Heimat und ihre Familie zurückließen, als auch für die Zurückgebliebenen. Inga ebenso wie ihre Großeltern (Christine Schorn und Hermann Beyer) sind auch mehr als 15 Jahre nach der Wende noch immer gefangen in den Lügen von damals. Und der Mann aus dem Westen, Robert, der so gern seinen ersten Roman schreiben will, sieht darin nur die Geschichte, nicht aber die Menschen.
Neue Kritiken

Leibniz – Chronik eines verschollenen Bildes

Kung Fu in Rome

Dangerous Animals

Versailles
Trailer zu „Novemberkind“

Trailer ansehen (1)
Bilder




zur Galerie (16 Bilder)
Neue Trailer
Kommentare
Es gibt bisher noch keine Kommentare.