Tore tanzt – Kritik

Ausgebuhtes Kino aus Cannes: Der einzige deutsche Beitrag des Festivals spaltet mit einer Verkupplung von kleinbürgerlichem Sadismus und religiöser Erlösung.

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Es gibt sie: eine kurze Szene, in der Tore tanzt. Er tanzt wild, selbstbewusst, selbstvergessen – der Film kann ihm dabei kaum folgen. Der zierliche blonde Protagonist (Julius Feldmeier) bewegt sich mehr noch als aus Lust, weil er das schüchterne Mädchen Sanny (Swantje Kohlhof) aufmuntern, sie ihre alltägliche Anspannung vergessen lassen will. Beide verschwinden hinter anderen Tanzenden, die Kamera geht hinein ins Geschehen, verdoppelt die Bewegungen der Figuren, prägt subjektive und fragmentarische Eindrücke einer durcherzählten Szene. Tore tanzt will immersives Körperkino sein, Milieus und Protagonisten über die menschliche Physis, die räumlichen Haltungen und Verhältnisse erfassen. Das jedenfalls wäre eine Erklärung dafür, wieso Katrin Gebbes Debüt eine Art Rumpffilm bleibt, ein Werk, das starke affektive Wirkungen entfaltet, die nur nicht bewusst nachvollzogen werden können.

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Tore, das klingt nicht von ungefähr noch Torheit. Der junge Mann ist ein Jesus Freak, auf seinem Rücken steht „Teach Us Lord“ tätowiert, er ist naiv und gutgläubig, möglicherweise auch mental etwas zurückgeblieben. So jedenfalls wirken seine Interaktionen mit anderen: Schnell euphorisch, mit leichtem, fast hüpfendem Schritt bewegt er sich, begegnet den anderen Freaks mit großen Augen und offenem Gesicht; aber auch Fremden auf der Autobahnraststätte mit einer Motorpanne springt er entgegen, als gingen ihn soziale Normen nichts an. Seine Überzeugungen, die gefundene Religion, die eine besonders strenge, aber in den Ritualen jugendlich-freie Form der Ehrerbietung bedeutet, befolgt er mit überschwänglichem Ernst. Einmal sagt er im Scherz, er sei ein Prophet. Ein anderes Mal will er unbedingt in einer Begegnung mit einem Ungläubigen eine göttliche Mission erkennen. Kurz darauf stürzt er sich in das Familienleben von Benno (Sascha Alexander Gersak), der ihn hilfsbereit bei sich aufnimmt, als Tore eine Couch zum Übernachten braucht.

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Um das Experiment Hardcore-Jesus-Freak trifft kleinbürgerliche atheistische Familie geht es im Folgenden, einem in drei Kapitel unterteilten Film: Glaube – Liebe – Hoffnung. Das klingt etwas großspurig, und tatsächlich oszilliert Tore tanzt immer wieder zwischen kleinem Fernsehspiel – mit konventionellen Plot Points, routinierter Montage und schnell eingeführten Stereotypen – und einer Hinwendung zum (Festival-)Kino mit entsprechend freierer Dramaturgie, der Emphase von Momentaufnahmen und der Absage an psychologische Antworten. Gebbe hat das Drehbuch selbst verfasst, beraten von Matthias Glasner, mit Filmen wie zuletzt Gnade (2012) im deutschen Kino vielleicht der Apologet einer religiös gedeuteten Sühne des Perversen, die sich zugleich immer an Gewalt und Leid ergötzt. Nun, Gebbe ist nicht Glasner, vor allem beherrscht sie die filmischen Mittel nicht in der gleichen Weise, sie sucht aber auch die Grenzüberschreitung aus einer weniger distanzierten, weniger sicheren Perspektive. Ohne über schlichte Identifikationsmuster zu gehen, schafft Tore tanzt eine grundsätzliche Sympathie für seinen Protagonisten, wer kann dem Tor schon Böses wollen? Dass es anders kommen muss, ist freilich in der Figur und der Begegnung mit Benno angelegt. Vom Kumpel wandelt sich Letzterer schnell zum Peiniger. Tore hält die zweite Wange hin.

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Er lernt die Hölle auf Erden kennen und begreift sie als Prüfung. Vor allem die beiden Kinder eines anderen Mannes, mit denen Benno und seine Freundin Astrid (Annika Kuhl) zusammen in einem Schrebergartenhäuschen den Sommer verbringen, will er beschützen. Sein Opfer soll sie stark machen. Gebbe hat mit ihren Figuren und Zuschauern einiges an Tortur vor. Wirkungsvoll lotet sie das Unbehagen und ein geradezu körperliches Unwohlsein bis an die Grenze aus. Filmisch ist das zwiespältig gelöst, weil die Kamera keine dezidierte Position zum Geschehen findet. Sie sucht die Nähe, hält drauf, schafft aber fast nie eine Ebene, auf der man als Zuschauer etwas anderes als Mitleid empfinden könnte. Zwar verhindert sie auf den ersten Blick eine Distanz, erlaubt aber nur eine schlichte Einfühlung auf die grundlegendste, instinktive Art. Gerade die soziale Dimension kommt viel zu kurz. Wo anfangs mit großzügigen Pinselstrichen die Milieus der Jesus Freaks und der kleinbürgerlichen Zelle angekündigt werden, folgt im Verlauf der drei Episoden keine Entwicklung, wenig Nuancen und auch keine These. Die Figuren sind vielmehr parabelhaft angelegt, wofür die ins Naturalistische hineinragende Umsetzung aber wiederum zu sehr vorgibt, Abbild zu sein.

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So sitzt der Film zwischen den Stühlen und wird mit fortlaufender Dauer zunehmend schwer auszuhalten. Von der Anlage her ist Gebbes Inszenierung gar nicht verkehrt, man wünscht sich schließlich auch keine weitere autoritäre Gewaltverbildlichung à la Haneke. Dennoch scheitert der Film an seiner Unentschiedenheit, an der wahrgenommenen Willkür in der Darstellung. Als kurzer Schock im Kinosaal funktioniert Tore tanzt dagegen überraschend gut, vor allem wenn man sich vergegenwärtigt, wie wenig davon über den simplen Effekt hinausgeht und wie holprig die Konstruktion letztlich bleibt. Gebbe wagt einen Drahtseilakt zwischen dramaturgischer Eindeutigkeit und filmischer Offenheit. Immerhin gab es Buhrufe in Cannes. Nicht die schlechteste Form der Auszeichnung.

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