Compliance – Kritik

Der Schlaf der Verantwortung gebiert Ungeheuer.

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Der Psychologe Stanley Milgram führte 1961 das bis heute ebenso berühmte wie umstrittene Milgram-Experiment durch. Dabei wurden die Versuchspersonen aufgefordert, einem im Nebenraum sitzenden Menschen (einem eingeweihten Schauspieler) per Knopfdruck Stromschläge von unterschiedlicher Stärke zu versetzen – als Strafe für ungenügende Leistungen bei Sprachtests. Milgram wollte herausfinden, wie weit Durchschnittsbürger gehen, wenn sie einem anderen Menschen auf Befehl einer Autorität (hier einem Wissenschaftler) Schmerzen zufügen sollen. Die Elektroschocks wurden zwar nicht tatsächlich verabreicht – dies war den Versuchspersonen allerdings unbekannt. Obwohl die „bestraften“ Schauspieler schrien und darum baten, das Experiment abzubrechen, weigerten sich nur 14 von 40 Probanden an einem bestimmten Punkt, den Opfern weitere Schmerzen zu verursachen. Allerdings brach keine einzige Versuchsperson das Prozedere unter 300 Volt ab. 26 Teilnehmer hörten sogar erst auf, als Milgram den Versuch stoppte. Anders als beim (mehrfach verfilmten) Stanford-Prison-Experiment ging es Milgram nicht um sadistische Veranlagungen, sondern um Autoritätshörigkeit: Inwieweit sind Menschen bereit, gegen ihre eigenen Werte zu verstoßen und moralische Zweifel beiseite zu schieben, wenn ihnen die Verantwortung für das Geschehen durch die Befehle einer höheren Instanz abgenommen wird?

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In Compliance (2012) stellt Regisseur Craig Zobel diese Versuchsanordnung in ähnlicher Form nach – allerdings orientiert er sich dabei an Ereignissen, die außerhalb von wissenschaftlichen Laboren real stattgefunden haben, immer wieder. Ein Mann (Pat Healy) ruft in einem Fast-Food-Restaurant an, gibt sich als Polizist aus und behauptet gegenüber der Filialleiterin Sandra (Ann Dowd), die junge Kassiererin Becky (Dreama Walker) habe Geld aus der Handtasche einer Kundin gestohlen. Mit einer Mischung aus Einschüchterungen, Komplimenten und Befehlen bringt „Officer Daniels“ Sandra dazu, Becky in einem Hinterzimmer festzuhalten und sie zu durchsuchen. Ohne je die Angaben des vermeintlichen Polizisten zu hinterfragen, führt Sandra seine Anweisungen aus, obwohl ihr das fast ebenso unangenehm ist wie Becky, spätestens wenn diese sich auf Geheiß des Anrufers entkleiden muss. Zwar äußert Sandra zunehmend Bedenken, je extremer die angeblichen Ermittlungsmethoden werden. Doch das erhebende Gefühl, einer Autorität zu dienen, wichtig zu sein – und nicht zuletzt die Versicherung des Mannes, er übernehme die komplette Verantwortung – schaltet ihre Zweifel aus.

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Sandra bleibt nicht die einzige Person, die blinden Gehorsam zeigt. Und für Becky bleibt es nicht beim demütigenden Ausziehen vor den Kollegen. Sie ist den sadistischen Fantasien des Anrufers und ihrer „Wärter“ im Restaurant schutzlos ausgeliefert. Sie muss sich bücken, wird geschlagen und sexuell missbraucht. Sukzessive steigern sich die Bewacher immer stärker in ihre Rollen hinein und kosten ihre Macht aus – die Befehle des Fremden dienen nur noch  ihrer Selbstermächtigung und Legitimierung der eigenen Boshaftigkeit. Und auch Becky internalisiert ihre Rolle als unterworfener „Häftling“ zunehmend, liefert falsche  Schuldeingeständnisse, akzeptiert ihre Strafen, entschuldigt sich für ihr „Fehlverhalten“. Ihr Wille wird von der sich verselbstständigen Dynamik der Situation gebrochen. Es ist der Hausmeister, ein einfach gestrickter Mann, der irgendwann endlich den Terror unterbricht – er beweist durch instinktive Abscheu gegen die Befehle des Anrufers mehr moralische Kompetenz als ihm intellektuell überlegene Figuren.

Die Handlung ist in der zweiten Hälfte nicht immer glaubwürdig, das Ende zieht sich zu lange hin und ein später Twist, der den Täter näher beleuchtet, wirkt aufgesetzt (wenn auch realistisch). Viel entscheidender als solche marginalen Makel ist jedoch die Frage, ob der Film sein Ziel erreicht. Gegen die nicht wenigen wütenden Zuschauer, die Craig Zobel einen Exploitation-Stil vorwerfen, kann man Compliance ruhigen Gewissens in Schutz nehmen. Der Film inszeniert das Geschehen durchgehend unsensationalistisch, stellt die psychologische Konstellation um ein Vielfaches stärker in den Vordergrund als das Becky zugefügte physische Leid und zeigt Nacktheit ausschließlich in einer maximal entsexualisierten, jeder Erotik beraubten Form.

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Die Empörung größerer Zuschauermengen sagt nichts über den Film an sich aus, sondern beweist lediglich, wie kontrovers das Thema – die dunkle Seite der menschlichen Natur – auch 50 Jahre nach dem Milgram-Experiment noch immer ist und wie gerne wir unangenehme Selbsterkenntnisse verdrängen.

Die Empörung aber, die viele Zuschauer angesichts von Sandras Verhalten empfinden, ist durchaus problematisch. Anders als in einigen Filmen Michael Hanekes wird der Zuschauer nicht kraft seines Voyeurismus zum Komplizen gemacht, sondern er bleibt in der Rolle des distanzierten Beobachters. Von dieser Position aus fällt es leicht, sich rechtschaffen über die Figuren zu erheben und ihr Verhalten zu verurteilen in der vermeintlichen Gewissheit, man selbst würde in einer vergleichbaren Situation anders, besser reagieren.

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So gerne Haneke als moralistischer Pädagoge mit erhobenem Zeigefinger abgetan wird – seine Filme gestatten dem Publikum keinen Ausweg aus der Mittäterschaft. Compliance hingegen veranschaulicht zwar das psychologische Problem der Autoritätshörigkeit sehr gekonnt, schafft es aber nicht, dem Zuschauer die eigenen destruktiven Dränge aufzuzeigen.

Hanekes Zeigefinger ist auf die schuldig gewordenen Figuren und das darin gespiegelte Publikum gerichtet. Bei Craig Zobel fehlt diese Dopplung der Inkriminierung. Compliance stellt seine Figuren an den Pranger, lässt dem Zuschauer aber seine selbstgerechten Trugbilder.

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