Zur Kenntlichkeit verzerrtes Deutschsein – Forum 2021
Die Reihe „Fiktionsbescheinigung“, die vom 19. bis 28. August im Berliner Sinema Transtopia läuft, versammelt Perspektiven auf dieses Land, die zugleich von innen und von außen kommen.

Der erste Biergarten in Teheran soll eröffnen, nach klassisch bayerischem Vorbild, das ist doch mal ein tolles Thema für den Abschlussfilm einer in Deutschland gelandeten Iranerin! Schließlich ist die Braukunst einst in Persien entstanden, und jetzt ist Alkohol im Iran verboten. Aber eine Entrepreneurin will es trotzdem versuchen, sie steht dort schon im Dirndl zwischen ihrer PowerPoint-Präsentation und interessierten Investoren. Ironie der Geschichte! Kulturen prallen aufeinander! Deutschland wird exportiert!
Ethnografiertes Deutschland

Dieser Film ist allerdings nur ein Teil von In the Name of Scheherazade oder der erste Biergarten in Teheran (2019) – der Teil, den der deutsche Redakteur, der sich immer mal wieder griesgrämig aus dem Off meldet, gern sehen würde. Narges Kalhor aber hat einen anderen Film gedreht, einen Film übers Filmemachen und einen Film über Deutschland, seine (hier fast ausschließlich männlichen) Redakteure und Experten, seinen Kunstbetrieb, seine Vorstellungen vom Orient. Einen Film darüber, als Migrantin hierzulande nicht einfach einen Film machen zu können, wenigstens nicht so wie andere, stattdessen repräsentieren zu müssen. „Mach doch was über deine Biografie“, wurde der in Teheran geborenen Kalhor immer wieder gesagt, nachdem sie nach einer ersten Festivaleinladung 2009 in Deutschland geblieben war und das mit dem Filmemachen ernsthaft anging.

Von solchen Zwängen handelt In the Name of Scheherazade. Kalhor geht es weniger um persönliche Erfahrung und Identität als um deren Produktionsbedingungen. Und nebenbei dreht sie den Blick um: Deutschland wird provinzialisiert und zum ethnografischen Material; ein zur Kenntlichkeit verzerrtes Deutschsein kommt in den interviewten Bier-Fachleuten ebenso zum Ausdruck wie im besserwissenden Redakteur aus dem Off und im narzisstisch weltgewandten Grafik-Designer, der ein bisschen recherchiert hat, um für den ersten Biergarten in Teheran ein paar Logo-Vorschläge zu präsentieren – mit falschen Übersetzungen ins Farsi und Symbolen, die seit 1979 verboten sind. Durch Kalhors kluges Framing werden aus Experten Almans.
Slacker und Stoffdruck

Um eine solche Blickumkehrung geht es der vom Forum der Berlinale und vom Kinoprojekt Sinema Transtopia veranstalteten Reihe „Fiktionsbescheinigung“. Um die Sicht derer, die in den Augen vieler noch dann nicht zu Deutschland gehören, wenn sie die Sprache sprechen oder den Pass haben – die deshalb eine paradoxe Außenperspektive von innen einnehmen. Der Titel der Reihe ist dem Amtsdeutsch entlehnt, der Begriff bezeichnet dort das vorläufige Aufenthaltsrecht, das man mit dem Antrag auf Erteilung einer regulären Aufenthaltserlaubnis erlangt. Die 16 Kurz- und Langfilme, die auf acht Programme verteilt sind, lesen diesem bürokratischen Nominalstil die Leviten, fächern Aufenthalts- und Deutschlandfragen in unterschiedlichste Erzählformen und Ästhetiken auf.

Es gibt hier den Slacker-Humor von Fake Soldier (1999), ein klassischer Pointen-Kurzfilm um zwei afrikanische Einwanderer, die sich der Mädels wegen als afroamerikanische G.I.s ausgeben. Lässig macht Regisseur Idrissou Mora-Kpai damit den Punkt, dass kein Deutschsein scheinbar immer noch besser ist als Schwarzes Deutschsein, dass seine beiden Protagonisten erst ein bisschen dazugehören, als sie vorgeben, nicht dazuzugehören. Es gibt aber auch die animierten Stoffdruckbilder von Sorge 87 (2018), mit denen Thanh Ngyuen Phuong die Interviews visualisiert, die sie mit ehemaligen DDR-Bürger:innen und vietnamesischen Vertragsarbeiter:innen über den „Kulturkontakt“ in ihrem Geburtsort Werdau geführt hat.
Eine deutsche Tradition

Die zwei ältesten Filme stammen von 1980: Sema Poyraz’ DFFB-Abschlussfilm Gölge über das erwachende Begehren der ältesten Tochter einer aus der Türkei eingewanderten Familie, und die schwedische Produktion The Earthmen (Jordmannen), eine Parabel auf Arbeitsmigration, in der ein türkischer Bauer, visualisiert als Knetfigur, sich aus der anatolischen Provinz aufmacht, um weiter westlich besseres Geld zu verdienen. Deutschland taucht in Muammer Özers Film nur kurz am Anfang auf: in Gestalt eines Arztes namens Dr. Hans Müller, der dem Erdmann die medizinische Freigabe für die Arbeit in Deutschland verweigert, woraufhin dieser in Schweden anheuert. (Man denkt unweigerlich an die Wochenschau-Berichte über medizinische Tauglichkeitstests, die deutsche Ärzte in Italien und auf dem Balkan, in der Türkei und in Griechenland an Anwärter:innen für die Gastarbeit durchführten.) Auch Ayşe Polats Auslandstournee widmet sich der Migration aus der Türkei: Der Tod des alleinerziehenden Vaters der vorpubertären Şenay bringt hier ein berührendes Roadmovie durch die türkischen Nachtclubs europäischer Städte in Gang, das Migration nicht zuletzt als sehnsüchtige queere Praxis ins Bild setzt.

Dann gibt es noch Filme, die sich explizit mit rassistischer Gewalt auseinandersetzen, etwa Rahim Shirmahds 18 Minuten Zivilcourage (1991) über den Tod des Asylbewerbers Kiomars Javadi oder Mala Reinhardts eindrucksvoller Der zweite Anschlag, der, ausgehend von Begegnungen mit Betroffenen des NSU-Terrors sowie den Anschlägen von Mölln und Rostock-Lichtenhagen, die Kontinuität rassistischer Gewalt in Deutschland bis in die 1980er Jahre zurückverfolgt und die Ignoranz von Politik, Medien und Mehrheitsgesellschaft gegenüber dieser deutschen Tradition offenlegt.

Auch wenn Der zweite Anschlag gerade im Vergleich zum verspielten In the Name of Scheherazade konventionell daherkommt, drückt sich das Ethos der Blickumkehrung hier nicht minder klar aus: Reinhardts Film zeigt etwa, wie die Angehörigen der NSU-Opfer schon 2006 bei der in Kassel organisierten „Kein 10. Opfer“-Demo auf eine Mordserie aufmerksam machten, die noch fünf lange Jahre „unentdeckt“ bleiben sollte. Das migrantische war dem mehrheitsgesellschaftlichen Wissen weit voraus, ein Beispiel, das man bei Debatten über Identitätspolitik stets im Kopf haben sollte. Aus persönlicher Betroffenheit entsteht nicht automatisch eine reine Wahrheit oder die richtigere politische Position, wohl aber eine Perspektive, auf die zu verzichten sich keine Gesellschaft leisten kann, die sich selbst als demokratisch versteht.
Postmigrantische Zukunft

Mit seinem Blick ins filmische Archiv des nicht-deutschen Deutschlands arbeitet „Fiktionsbescheinigung“ somit an der Normalisierung eines postmigrantischen Deutschlands. Mit diesem Schlagwort ist gemeinhin nicht bloß ein Zustand „nach“ dem Ereignis der Migration gemeint, sondern das unabgeschlossene Projekt einer Gesellschaft, die Geschichte und Gegenwart der Migration nicht als Sonderphänomen, sondern als konstitutiven Bestandteil begreift – und mit diesem Selbstverständnis auf eine andere Zukunft hinarbeitet.

Eine solche Zukunft kann bis auf Weiteres wohlmöglich nur im Futur Drei formuliert werden, aber formulieren kann man sie ja trotzdem mal: „Making Future Tangible“ heißt ein Motto in Zara Zandiehs frisch von den Oberhausener Kurzfilmtagen kommendem Octavia’s Visions, dem aktuellsten Beitrag der Reihe. Zandieh lässt sich darin vom Werk der 2006 verstorbenen afroamerikanischen Science-Fiction-Schriftstellerin Octavia E. Butler zu einer queer-dekolonialen Umgestaltung der Welt inspirieren. Aus dem Jahr 2056 blickt Butlers Ur-Ur-Enkelin, die Augmented-Reality-Kontaktlinsen für pädagogische und therapeutische Zwecke programmiert, auf eine Generation zurück, die glaubte, es gebe keinen Ausweg mehr, „vor allem nach 2022, als diese sehr beunruhigende Zeit losging“. Die Moderatorin stimmt zu: „Tatsächlich sind wir ja die erste Generation, die wieder eine andere Welt gesehen hat.“ Welch besseren Ort für derlei Visionen kann es geben als ein Kino namens Sinema Transtopia. Dort wird die Reihe im August dann auch auf der Leinwand zu sehen sein.
Das komplette Programm gibt es hier.
Kommentare zu „Zur Kenntlichkeit verzerrtes Deutschsein – Forum 2021“
Es gibt bisher noch keine Kommentare.