WM 2018: Der natürliche Feind des Affekts
Männer, die auf Bildschirme starren: Der sogenannte Videobeweis macht aus dem Actionfilm des Fußballspiels ein Gerichtsdrama – und verspricht, was er nicht halten kann.

Schiedsrichter auf Abwegen: Die Herren über die Bewegung sind in den letzten Wochen in kaum erahntem Ausmaß zu Fans des Bewegtbilds geworden. Selbst wo sie zunächst souverän ihres Amtes walten, mit einem strengen Pfiff das Spiel unterbrechen und Gesten machen, die keinen Zweifel zulassen, wird ihnen nun regelmäßig nahegelegt, sich an einen Bildschirm zu begeben und zu zweifeln. Weitsichtig sollten sie stets sein, nun sollen sie auch noch fernsehen. Vielleicht eine willkommene Abwechslung für Sportler, auch Schiris laufen immerhin zwischen 10 und 13 Kilometer pro Spiel, vielleicht gar eine aufregende Neuerung, so wie einst die ersten Computer im Schulunterricht. Die wurden damals nicht ausschließlich enthusiastisch begrüßt, sondern auch argwöhnisch betrachtet, und auch beim Videobeweis gibt es allerhand Kulturpessimisten, die den Untergang des Volkssports schon nahen sehen.
Ein Gestörter
Für uns, die wir die Bewegungen des Fußballs schon immer als Bewegtbild erlebt haben, führt die neue Fußballwelt mit Videoassistenz erstmal zu ungewohnten Einstellungen. Nicht mehr nur die Tat, über die entschieden wird, ist nun ins Bild gesetzt, in mehrfacher Wiederholung und Verlangsamung, beim Eingriff des Video Assistant Referee (VAR) steht die Entscheidung selbst im Mittelpunkt. Der Schiri hält dann eine Hand ans Ohr, seine sonst so souveräne Fortbewegung wirkt merkwürdig gestört, der Fluss des Spiels unterbrochen. Nicht mehr sein Blick auf Ball und Spieler ist entscheidend, sondern die Stimme in seinem Kopf. Wie ein Gestörter ignoriert er die 22 Männer, auf die er aufpassen soll, rennt zum Spielfeldrand, verschwindet in einem abgesperrten Bereich – die Regie schneidet dann meist auf eine Vogelperspektive, um seinen Laufweg nachvollziehen zu können. Das Fernsehbild dreiteilt sich schließlich, als Zeichen, dass sich der VAR eingeschaltet hat: Wir bekommen im großen Ausschnitt die Tat geliefert, sehen in einer Bildecke die Detektive, die ihr auf der Spur sind – das immer gleiche Bild eines Videozentrums, das an Surveillance-Filme erinnert –, und in der anderen den Richter, der das Material sichtet und entscheiden müssen wird.
Die Mehrdeutigkeit des Bildes

Auf dem Platz zurückgelassen: Täter und Opfer, Beschuldigte und Verteidiger, Angeklagte und Geschädigte. 22 Männer, deren bange Hoffnung auf eine Entscheidung zu ihren Gunsten sich nun nicht mehr auf die Flüchtigkeit der Bewegung selbst richten kann, aber ein neues Ziel gefunden hat: die Mehrdeutigkeit eines jeden Bilds. Denn wenn eines deutlich geworden ist nach einer Bundesligasaison und einer WM mit dem Video-Assistenten: Nichts könnte falscher sein als der im Volksmund geläufige Ausdruck Videobeweis.
Dass ein Bild nicht automatisch eine Evidenz ausdrückt, dass wir seiner Wahrheit nicht näherkommen, wenn wir es vergrößern und verlangsamen, das wissen wir ja spätestens seit Blow Up. Und ein bisschen erinnern die ständige Perspektivenverschiebung, die Superzeitlupen, die Winkel und Richtungen, aus denen die Tat nochmals beleuchtet wird, an die Arbeit des Fotografen aus Antonions Film, der im Glauben, einen Mord auf Kamera gebannt zu haben, einen Abzug nach dem anderen entwickelt, Ausschnitte vergrößert, bis die Wahrheit sich irgendwann in den groben Körnern des Mediums verliert.
Auch die Berührung zweier Schenkel lässt sich so lange begutachten, bis sie nichts mehr aussagt, so wie ein Wort, das einem umso fremder und merkwürdiger erscheint, je länger man es betrachtet. Beim Foul dreht sich alles um die Berührung, aber ist sie einmal endgültig im Bild festgehalten, verschwindet das Vorher und das Nachher, und das Bild scheint uns nichts mehr zu sagen. Kein Wunder, dass die Schiris von der Videozentrale nicht nur Zeitlupen geliefert bekommen, sondern auch Zeitraffer, die aus dem zeitlichen Close-up direkt wieder eine zeitliche Totale machen. Erst im Zusammenspiel aus Verlangsamung und Beschleunigung ergibt sich ein Bewegungsbild. Wie verhält sich der Punkt zur Linie? Das ist die Frage, deren Beantwortung nun leichter fallen soll.
Fallanalyse: Tätlichkeit eines Weltstars

Aber was ist mit Fällen, in denen die Bewegung selbst unklar ist? Die vermeintliche Tätlichkeit Cristiano Ronaldos im Spiel gegen den Iran war für viele ein Beleg für den Sonderstatus von Weltstars, die selbst für grobe Vergehen ungeschoren davongekommen, damit das Großereignis nicht gestört wird. Der Schiedsrichter bekommt hier ein Zeichen, soll sich einen Zweikampf Ronaldos nochmal ansehen, das Fernsehbild geht in den VAR-Modus: zwei unterschiedliche Perspektiven auf den Zweikampf in der Bildmitte, rechts oben der fernsehende Richter, rechts unten der Überwachungsraum. In einer Perspektive sieht Ronaldos Armbewegung wie ein Punch aus, als versuchte er, den Gegner per Nackenschlag niederzustrecken, und verfehlte ihn nur durch Zufall. Die zweite Perspektive ist von weiter weg, von etwas weiter oben, und hier scheint es, als würde er nur überholen wollen, sich mit einer Art Schwimmbewegung einen Vorteil gegenüber dem ohnehin schon aus dem Gleichgewicht gebrachten Gegenspieler verschaffen. Was sehen wir da? Was haben die Überwacher in ihrem Keller gesehen? Und was sieht der Richter vor dem Fernseher? Videobeweis? Noch immer ist die Entscheidung keine Sache des Bildes, sondern seiner Interpretation, steht nicht auf der Seite des Textes, sondern der Lektüre.
Gerichtsdrama im Actionfilm
Der Mann hat dann genug gesehen, er rennt zurück aufs Feld, die Gelbe Karte in der Hand. Ein Kompromiss: weder die Tätlichkeit (rote Karte) noch die Unschuld konnte festgestellt werden. Ronaldo grinst höhnisch, für ihn scheint jede Strafe eine Majestätsbeleidigung zu sein. Die iranischen Spieler protestieren, für sie gehört Majestät des Feldes verwiesen. Solche Dramen zweiter Ordnung spielen sich von nun an in Fußballfilmen ab. Die Diskussionen, die Zweifel, die Uneindeutigkeiten, sie sind nicht mehr das Privileg der Rezipienten. Die Analyse ist dem Spektakel nicht mehr äußerlich, sondern Teil von ihm geworden. Wie auch in anderen Bereichen der Bewegtbildkultur gehört die Selbstreflexion fortan mit dazu.
Aber was nicht vergessen werden darf, und worauf Gegner des Videoassistenten gerne hinweisen: Für Fans, die das Sofa auch gern mal verlassen und gen Stadion pilgern, ist die neue Gewichtung von Bewegung und Analyse ein Problem. Jeder Torjubel wird fortan von der Ahnung begleitet, eventuell gleich einem Richter aus mehreren hundert Metern Entfernung beim Fernsehen zuschauen zu müssen. Der ins Spiel eingeführte Zweifel ist der natürliche Feind des Affekts. Dem Actionfilm des Fußballspiels wurde mit der Genrespritze das Gerichtsdrama injiziert, for better or for worse.
Kommentare zu „WM 2018: Der natürliche Feind des Affekts“
Lukas
könnte man das nicht vielleicht alternativ auch so beschreiben, dass der videobeweis ein verrat am jusristischen akteur "schiedsrichter" ist? schließlich wird das am theatermodell orientierte gerichtsdispositiv aufgegeben zugunsten eines technisierten tribunals. (siehe cornelia vismann, medien der rechtsprechung) also so ungefähr: die übertragung nähert sich, wenn sie den videobeweis nachvollzieht, den konventionen des gerichtsdramas an, verschleiert aber gleichzeitig, dass fußball verfahrenstechnisch eigentlich schon immer eine gerichtsverhandlung ist.
Till
Hmm, ja, spannend. Wobei ja mit dem VAR schon erstmals zugestanden wird, dass es da etwas zu "verhandeln" gibt, dass es einen alternativen Ausgang gibt, während der Pfiff, die Abseitsfahne etc. ja immer Entscheidungen als unmittelbare Reaktionen Reaktionen sind. Aber es ist natürlich trotzdem im Wesen ein Gerichtsverfahren, klar und die Veränderung keine qualitative, sondern nur eine Verschiebung der Kompetenz in Richtung Technik, die die "Aufführung" verändert. Kenne das Buch nicht, aber leuchtet ein, was du schreibst.
Lukas
ich find die analogie auch deshalb interessant, weil es auch bei vismann um die rolle der zuschauer geht. sobald zwischen der tribüne und dem geschehen auf der gerichts/fußballbühne eine medientechnische schranke installiert ist, verliert das verfahren/spiel streng genommen seine prozessuale legitimität und wird zu einem schauprozess, weil es keine einheit von körper und akteur mehr gibt.
Moinet
Ich finde bemerkenswert, wie bei den eindeutigen Fällen, wo also nur überprüft werden muß, ob Aus, Abseits o.ä., die Kompetenz der Schiedsrichter weg von der eigentlichen Entscheidung (die ja fortan von der Technik übernommen wird) und stattdessen hin zum Spiel, zur Darstellung, zum Acting verlagert wird (das Kommunikationsverhalten hat natürlich schon vorher eine wichtige Rolle gespielt) und interessanterweise hier dann auch wieder auf "gut" oder "schlecht" hin bewertet werden kann oder muß. Ein und dieselbe Äußerung muß gleichzeitig auf dem Platz, im Stadion und am Fernseher verstanden werden. Eine Prise Stummfilm ist also vielleicht auch in den Fußball-Actionfilm injiziert worden.
Was ich zukünftig noch weiter beobachten und verstehen möchte (an dieser Stelle auch explizit danke für den Text und die Kommentare), Beispiel schwalbiger 1:0-Freistoß im Finale, inwieweit die Action durch den Gerichtsfilm korrumpiert wird und umgekehrt. Ich habe bei mir etwas beobachtet, was ich so eigentlich nicht kannte, ich habe nach dem 1:0 nämlich den gesamten Spielverlauf nicht mehr anerkannt. Das Spiel war irgendwie kaputt (möglicherweise war es aber gar nicht das Spiel, sondern vor allem der Film? und was ist der Unterschied? und welche Rolle spielen meine Erwartungen dabei?). Die Action der Freistoß-Szene wurde zur Farce, und der Gerichtsfilm aber gleichzeitig genauso. Beides durfte sich in der Szene nicht entfalten und seine Stärke ausspielen (einer der bisherigen Höhepunkte des neuen Genrehybrids war Kuijpers' Korrektur des eigenen Elfmeterpfiffs nach Schwalbe bei BRA-CRC mit sehr gelungenem Prozedere, was darauf hindeutet, daß neben Verfahrens- auch moralische Fragen bei der Akzeptanz eine gewisse Rolle zu spielen scheinen). Der Final-Film vermittelt beim 1:0 aus seiner eigenen Taxonomie heraus "dieses Tor ist durch einen nicht spielentscheidenden Betrug entstanden, völlig regelkonform", was Basis für sehenswerte Exploitation sein könnte, womit das WM-Finale 2018 aber so leider gar nichts zu tun hat (wenn ich Beckenbauer 1970 mit Armschlinge stolzieren sehe, erinnert das zumindest aus heutiger Sicht schon eher daran). Also irgendwie ein Verrat an beiden Genres, nämlich ohne dabei Regeln unterwandern zu wollen, im Gegenteil. Die Existenz von "göttlichen Mitteln" zum Zweck der "Gerechtigkeit" wirft bei ihrem regelgerechten Nichteinsatz natürlich unauflösbare, gänzlich neue und gleichzeitig uralte Fragen auf und steht irgendwo auch in fundamentalem Konflikt mit dem Fußballspiel als rauschartige Kausalkette, die von einer möglichst unparteiischen menschlichen Fachautorität geleitet wird, was ja seinerseits schon verschleiert, daß soziale Konfliktsituationen auch in Konsens aufgelöst werden könnten. So gesehen fast ein Rückschritt in voraufgeklärte Zeiten. Am augenscheinlichsten wird das in den uneindeutigen Situationen, wo man den Schiedsrichtern auf geradezu melodramatische Weise dabei zugucken muß, wie sie sich bei Ansicht der Bilder öffentlich selbst dekonstruieren und zum Anachronismus erklären müssen, ohne daß dabei aber irgendeine mächtigere Wahrheit generiert würde. Höchstens – Lektüre, nicht Text – eine technisch-(re)konstruierte, in eine Art Mehrheitsmeinung mündende Argumentsammlung, der Weg des geringsten Widerstands, ein akzeptierter Scheinkonsens, der nicht aufgrund von sich selbst, sondern nur aufgrund der bloßen Existenz der Videoassistenten einen höheren Wert als die affektive Fachentscheidung erhält, so daß sich plötzlich sagen läßt, wenigstens eine Art transparente Mehrheitsmeinung. An der Stelle besteht vielleicht auch Anschluß an die Kommentare zuvor, keine Ahnung. Mir gefällt das Bild der Injektion aus dem Text ganz gut, die Substanz ist jedenfalls in der Blutbahn angekommen. Konsequenterweise müßte der Fußball-Film zu einer quasi permanenten technischen Legalitäts-Analyse werden, also unendlich selbstreflexiv, und würde sich damit selbst auflösen (letztlich mit Hirnaktivitäts-Kontrolle, Kraftmessungen bei Körperkontakten und vielem mehr). Folglich müssen Regeln aufgestellt werden, die dies ausschließen (Regeln, die sich zum Erhalt des Spiels über technische Machbarkeit und juristische Indiziensicherung stellen), wie heute schon z.B. die Definition spielentscheidender Situationen nur für den Strafraum. Und diese Regeln verändern Film und Rezeption. Selbst dann, wenn dieselbe Situation vorher und nachher faktisch gleich behandelt wird, wie es beim 1:0 im Finale der Fall war. For better or for worse.
Beim Schreiben sind mir zwei Bogdanovich-Filme eingefallen: Wenn wir zuschauen, wie die Schiedsrichter sich öffentlich zum Anachronismus erklären müssen, erinnert das an Boris Karloff, wie er durch Targets (Bewegliche Ziele) geistert. Und der VAR dagegen zwingt wiederum Bogdanovich selbst in Karloffs Rolle, denn die Gerichtssaalszene am Schluß von What's up, doc? (Is was, doc?) scheint im technisierten Post-Screwball-Fußball-Film überholt zu sein.
Till
Hui, schön, dass ein Text solche Kommentare provoziert, auch das war sehr spannend zu lesen und höchst ergiebig. Danke dafür!