Wir haben durchgehalten - Filmfestival Rotterdam 2025
Die Entscheidung, einen Film anzuschauen, hat immer etwas von einem Glücksspiel. Erst recht gilt das auf einem Filmfestivals mit besonders breit gefächertem Angebot, wie das International Filmfestival Rotterdam eines ist. Zu einigen Beiträgen der diesjährigen Ausgabe,

Am Luganersee steht das größte Casino Europas. Im Jahr 2007 wurde das Casino de Campione d'Italia von Grund auf als enorme, brutalistische Minecraft-Konstruktion neugebaut. Der Spannung zwischen der niederdrückenden Architektur und der sie umschließenden kleinen, beschaulichen Gemeinde ist ein sensationelles filmisches Objekt – selbst, wenn man den Bau ästhetisch ablehnt; ich finde ihn überraschend gelungen. Nicht weniger spannend ist der schon 2018 folgende Bankrott, der für das Umland eine Krise bedeutete, da ein bedeutender Arbeitsgeber und eine Touristenattraktion wegbrachen. Es folgte Leerstand bis 2022. Für fast dreieinhalb Jahre war dieses alles bestimmende Gebäude eine abgeschlossene Geisterstadt.

Die Doku, beziehungsweise der Essayfilm über das Casino dreht sich im Grunde wie von selbst, wie Un gran casino (2025) eindrucksvoll beweist. Die kontrastreichen, langen Schwarzweißeinstellungen der Architektur brauchen nicht viel Anstrengung, um einen faszinierenden Film zu liefern. An diesem außerirdischen Fremdkörper kann man sich schwer sattsehen. Das Problem ist allerdings, dass sich Regisseur Daniel Hoesl dafür entscheidet, seinen Film flächendeckend mit einem prätentiös-poetischen Voice-Over zu versehen. Aus dem Off wird der Bau zum Symbol spätkapitalistischer Megalomanie und Verlorenheit erkoren. Ständig fällt der Satz: „rien ne va plus“, der zunehmend auch für den Zuschauer Geltung erlangt.
Der Reiz steckt in Intrigen

Indirekt führt der Film vor, dass jede Entscheidung für einen Film einem Glückspiel gleichkommt. Das gilt ganz allgemein, vor allem jedoch bei einem Filmfestival mit einer breitgefächerten Auswahl vorher unbekannter Titel. Oft fällt die Wahl intuitiv. Manchmal werden wir beglückt, manchmal wirkt es wie ein Pyrrhussieg, einen Film durchgestanden zu haben. Auf letterboxd lässt sich inzwischen teilweise in Echtzeit verfolgen, wie das Verharren im Kino zur heroischen Tat wird. Da wäre zum Beispiel dieser Kommentar, der mich nach First Person Plural (2025) direkt ansprang. In ihm wird das Gemeinschaftsgefühl beschrieben, das sich unter jenen wenigen einstellt, die in einem vormals gefüllten Kino nach einem massenhaften Exitus verblieben sind, wenn das Licht im nun eher verwaisten Saal wieder angeht. Die, die noch da sind, wissen, dass sie dazugehören: Wir haben durchgehalten.
Noch ein bisschen anders liegt der Fall, wenn man gar nicht erst physisch im Kino sitzt. Ich habe das diesjährige International Film Festival Rotterdam, wo auch Un gran casino und First Person Plural zu sehen waren, nur virtuell besucht. Heroisches Gemeinschaftsgefühl war also für mich nicht zu holen.

Wie ein Glücksspiel fühlt sich ein Online-Festival gleichwohl trotzdem an. Gewinne unter den von mir gesehenen Filmen sind in diesem Jahrgang Gowok: Javanese Kamasutra (Gowok: Kamasutra Jawa, 2025) und An Errand (2024). Zwei komplett unterschiedliche Werke. Ersteres ist ein Melodrama um die Liebe eines jungen Mannes, der ins Königshaus einheiraten soll, und einer jungen Frau, die zur Gowok herangezogen wird. Gowok ist eine traditionelle Form der Prostitution: Gutgestellte Familien geben Söhne in die Lehre einer Gowok, die ihnen beibringen soll, wie sie ihre zukünftigen Frauen am besten befriedigen. Es gibt jede Menge sentimentale Darstellungen ewiger Liebe – auch das, was es an Sex zu sehen gibt, bleibt oft im Bereich des Ätherischen, mit Ausnahme des kurz einbrechenden Gegenteils, der sexuellen Gewalt. Wie in einer Soap Opera oder einem griechischen Drama steckt der Reiz aber in Intrigen, Verrat, Rache und Schicksalsschlägen. Dazu noch Wahnsinn induzierende Liebesgeister, eine Geschichtsstunde zu aufblühendem Feminismus in Indonesien und rechtsradikale Mobs, die Leute wegen ihrer roten – klar, kommunistischen – Bluse lynchen. Bei allen Problemen, die der Film vielleicht hat, kann sich jedenfalls niemand beschweren, dass nicht genug los wäre.
Vages Bild eines bewegten Lebens

An Errand folgt hingegen dem Fahrer eines Mafiabosses. Während er mehrere hundert Kilometer nach Manila fährt, um das Mona-Lisa-T-Shirt und das dringend benötigte blaue Medikament seines Bosses zu holen, erinnert er sich. Wie er mit anderen Fahrern herumsitzt, wie sie sich austauschen und auf ihre Chefs warten. Wie sie von mystischen Kollegen erzählen, die sich, anders als sie, wie Actionhelden durch die gemeinsame Lebenswelt bewegen und, inzwischen totgeglaubt, untergetaucht sind. Wie er vorne im Wagen sitzt und den schamlosen Gesprächen seines Chefs zuhört. Wie er ein guter Mitarbeiter sein möchte, aber doch nur ein kleiner, unbedeutender Minion ist, der vielleicht doch sein Leben verschwendet. Still fügen sich kleine Miniaturen über Klasse, Sehnsüchte, Lebensentwürfe zusammen und ergeben das vage Bild eines bewegten Lebens, dass möglicherweise nirgendwo hinführt.
Einige andere Filme: Blind Love (Shi ming, 2025) von Julian Chou ist gewissermaßen eine Mischung aus Gowok: Javanese Kamasutra und An Errand. Der Film porträtiert das Ringen um sexuelle Identität in einem allgegenwärtigen Patriarchat. Eine Familie: Der Vater verlangt von allen Unterordnung; die Mutter erlebt die Wiederholung einer lesbischen Affäre mit der großen Liebe ihres Lebens, die dazu noch das Leben führt, dass sie gern hätte, dass sie sich aber nicht zu leben wagt; der Sohn rebelliert und fühlt sich zu derselben Frau hingezogen wie die Mutter. Der Aufbau tendiert zwar zur wilden Soap Opera, aber statt Eskalation gibt es Entschleunigung und das vorsichtige Hervorbrechen gedeckelter Gefühle.

Toshiaki Toyoda, zu Anfang seiner Karriere mit Filmen wie Tokyo Rampage (Poruno sutâ, 1998) oder Nine Souls (Nain sôruzu, 2003) noch relativ breitenwirksam unterwegs, stellte seinen neuen Film Transcending Dimensions (2025) vor: eine esoterische Meditation über den Zustand der Welt, Eigenverantwortung, die Macht religiöser Gurus und nächste Dimensionen, die den Film zeitweise wie durch ein Kaleidoskop gefilmt aussehen lassen. Das Ganze verliert sich zwar allzu oft in den lange ausgehaltenen Momenten einer nachdrücklichen, rätselhaften Realität, ist in seiner Obskurität aber doch mindestens eine Erfahrung.
Gutgemeintes, nettes Nichts

Im Haus meiner Eltern (2025) trägt die Ansätze eines sozialen Horrorfilms in sich, wenn eine Frau, die von der Welt unbedingte Zuneigung und Verbundenheit erlangen möchte, auf ihren mit Schizophrenie diagnostizierten Bruder trifft, der mit anderen Menschen ganz im Gegenteil nichts zu tun haben möchte. Der Film Tim Ellrichs lebt von unausgesprochenen, aber ständig anwesenden Konflikten. Vielleicht hätte es ihm gutgetan, wenn nicht durchgängig melancholisch auf traurige Gesichter geguckt würde, als wären sie der einzige Ausdruck der unterschwelligen, inneren Gewalt.

In Holy Electricity (2025) gab es nette Indie-Absurditäten, der Roadmovie Suçuarana (2024) sucht nach ein wenig Gemeinschaft auf kargen Straßen und Umgebungen und Gaami (2024) zeigt drei parallele Schicksale – ein Mädchen auf der Flucht vor einem Schicksal als Gottesdienerin, ein Junge versucht aus dem Gefängnis ausbrechen, in dem Bewusstseinskontrollexperimente an ihm ausgeübt werden, ein Mann, der ohnmächtig wird, sobald er berührt wird – die zunehmend zusammenlaufen. Solche Filme zu sehen, war durchaus bereichernd, heroisches Ausharren verlangten sie mir nicht ab. Dann waren da aber auch Filme wie We Are Aliens (2024).

Darin wird ein fluffiges Alien nach dem anderen auf die Erde geschickt, um die Menschheit zu eliminieren. Jedes einzelne trifft auf eine nette Person, die nicht so schlimm und egoistisch wie erwartet ist. Bestenfalls endet das in Szenen, in denen Mensch gegen Wuschel battlerappen, schlimmstenfalls erstickt der Film in einem gutgemeinten, netten Nichts. Ich habe ihn ausgehalten, fühlte mich dabei aber nicht heroisch.
Un gran casino und First Person Plural habe ich hingegen, muss ich gestehen, nicht durchgestanden. Zusehends drängte sich das Gefühl auf, dass vor allem Filme zum Streamen zugänglich waren, bei denen nicht unbedingt die große Nachfrage erwartet wurde. Bekanntere Titel wie David Cronenbergs The Shrouds (2024) oder Jia Zhang-kes Caught by the Tides, (Feng liu yi dai 2024) standen nicht zur Auswahl. Das Spiel schien doch ein wenig gegen mich zu laufen. Die Lehre daraus kann nur sein, dass nach Rotterdam zu fahren und seinen Heldenmut vor Ort zu beweisen, die Chancen auf Beglückung vergrößert.
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