Wildwüchsige Leidenschaft - Retrospektive Youssef Chahine

Dark Waters (1956) handelt von einer toxischen Dreiecksbeziehung, von Klassenunterschieden und Ausbeutung, von männlichem Stolz und weiblichem Freiheitsdrang. Diesen und noch viele andere Filme des großen ägyptischen Regisseurs Youssef Chahine kann man sich im März im Berliner Kino Arsenal ansehen.

Dark Waters gibt es gerade auf MUBI.

Es waren einmal zwei junge Männer; gute Freunde, obwohl sich der krasse Gegensatz zwischen ihnen schon am äußeren Erscheinungsbild abzeichnete. Ragab (ein junger Omar Sharif, noch ohne seinen charakteristischen Schnauzer) sieht aus wie ein Matrose aus dem Bilderbuch. Die weiße Mütze trägt er stolz wie eine Krone, das flatternde Jeanshemd, bei dem lediglich der unterste Knopf geschlossen ist, lässt seine ohnehin schon athletische Figur noch kräftiger aussehen. Mamdouh ist das genaue Gegenteil. Gerade hat er das Schiffereiunternehmen seines reichen Vaters übernommen, tritt zwar gepflegt mit Anzug und Krawattenschal auf, aber sein verträumter Blick verrät auch, dass er eher sinnlichen Reizen als wirtschaftlichen Überlegungen nachhängt. Als Ragab nach drei Jahren auf hoher See wieder zurück nach Alexandria kehrt und auf seinen alten Freund trifft, bringt ihn dessen neue Position reflexartig dazu, ihn mit „Herr“ anzusprechen.

Überhaupt zeigt Youssef Chahines noch fest im kommerziellen ägyptischen Kino verankertes Melodram Dark Waters (Siraa Fil-Mina, 1956) eine Welt voller Ungleichheit, die entsprechend immer wieder leicht aus der Balance gerät. Bei seiner Rückkehr muss Ragab feststellen, dass sich während seiner Abwesenheit mehr geändert hat, als ihm lieb ist. Das nicht minder impulsive Waisenmädchen Hamedah (Faten Hamama) – das Ragab zumindest in Gedanken schon geheiratet hat – ist zwischenzeitlich auf den Geschmack gekommen, mal wie eine Prinzessin behandelt zu werden, und zeigt sich auch am charmanten Mamdouh interessiert.

Ständig bringt diese toxische Dreierkonstellation die Stimmung zum Kippen; was gerade noch lebensfroh und sexuell aufgeladen war, ist bald schon wieder aggressiv und gewalttätig. Dark Waters ist ein Film voller wildwüchsiger Leidenschaft. Man ist rastlos und hyperemotional, schreit sich aus nächster Nähe ins Gesicht, fuchtelt wild mit den Händen herum und wird auch schnell mal handgreiflich. So wie es einige spektakuläre Wendungen sind, durch die sich innerhalb kürzester Zeit alles zum Guten oder zum noch Schlechteren wendet, ist man auch ständig in Habachtstellung, weil die Spannungen zwischen den Figuren jederzeit zur nächsten Explosion führen können.

Besonders von Ragab wird diese Unberechenbarkeit verkörpert, der wie eine zerstörerische Naturgewalt durch den ganzen Film fegt. Wenn er sich mit Hamedah streitet, schlägt er sie, zieht sie an den Haaren oder schleudert ihr Sätze wie „Ich schneid’ dich in Stücke und werf dich den Fischen zum Fraß vor“ entgegen. Er ist schon auch ein ziemlicher Idiot. Sein männlicher Stolz verbietet es ihm, seine wahren Gefühle zu zeigen. Und wenn sich Hamedah dann zu Recht anderweitig umsieht, fühlt er sich verraten.

Chahine zeichnet Ragab aber nicht nur als bösartigen Egoisten. Aus seinen Anfällen spricht auch die Angst eines verstoßenen Kindes, das nicht mehr allein bleiben will, und vor allem eine unermessliche Wut, die durch ein Leben voller bitterer Armut zu einem Ungeheuer mutiert ist. Auch die anderen Arbeiter im Film handeln intuitiv und damit überstürzt – was sie zum dankbaren Spielball privilegierter Intriganten machen. Durch eine Falschinformation, die sich mit der Frustration über schlechte Arbeitsbedingungen verbindet, bildet sich in Sekundenschnelle ein wütender Mob, der zu allem bereit ist. Chahine erzählt eine Liebesgeschichte, bei der unterschiedliche Vorstellungen und Begehren miteinander in Konflikt geraten, und siedelt sie auf einem sozialen Spannungsfeld an, durch das man endgültig die Hoffnung verliert, dass hier jemand sein Glück finden kann.

Anschauen kann man sich Dark Waters neben vielen anderen Filmen von Youssef Chahine im Berliner Kino Arsenal. Die Retrospektive, die dort im März läuft, macht es sich zur Aufgabe, einen einst recht prominenten und danach etwas in Vergessenheit geratenen Protagonisten des Weltkinos wieder gebührend zu ehren. In der erfreulicherweise überwiegend analog präsentierten Reihe lässt sich dabei auch die künstlerische Entwicklung des Regisseurs nachvollziehen – von seinen Anfängen im goldenen Zeitalter des ägyptischen Kinos über sein als Opus magnum geltendes Außenseiterdrama Cairo Station (1958) bis zu einem persönlicheren, offensiv politischen Autorenkino wie in seiner Alexandria-Tetralogie (1979–2004). Die letzte große Chahine-Retrospektive im Arsenal lief vor dreißig Jahren. Um nicht wieder so lange warten zu müssen, empfiehlt es sich also, die Gelegenheit zu nutzen.

Das gesamte Programm der Reihe gibt es hier

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