Was der Mensch macht, ist unperfekt – Doclisboa 2021
Erdrutsch und Entfremdung in Brasilien, eine selbstverwaltete Fabrik mitten im freien Markt und der Sehnerv als blinder Fleck des Menschen: Eindrücke von der 19. Ausgabe des portugiesischen Dokumentarfilmfestivals.
Katastrophale Entfremdung

„Ein Damm ist kein göttliches, sondern ein menschliches Werk, und alles, was der Mensch macht, ist unperfekt.“ Mit diesen Worten ihres jungen Protagonisten Marlon beginnt Aline Latas und Helena Wolfensons FIlm The Safest Place in the World. Marlon ist ein Opfer des Dammbruchs von Bento Rodrigues in seiner Heimatstadt Mariana im brasilianischen Bundesstaat Minas Gerais. 19 Menschen sind bei der verursachten Schlammlawine ums Leben gekommen. Nahezu alle Bewohner haben ihre Behausungen verloren, und Giftstoffe wie Arsen und Quecksilber halten sich noch für die nächsten 100 Jahre in den Gewässern Brasiliens. Ein ganzer Stadtteil ist buchstäblich vom Erdboden verschluckt, wie eine wackelige Privataufnahme gleich zu Beginn und später dann die Totale einer Überwachungskamera zeigen.
"The film is a portrait of Marlon", steht im Programmheft des Festivals, und das ist sicherlich nicht ganz falsch. Aber das Schöne an The Safest Place in the World ist, wie er einer partikularen Perspektive folgt, ohne selbst ganz in ihr aufzugehen. Sicher gibt der Film ganz klassisch denjenigen eine Stimme, die keine haben, ist nah bei den Opfern und eine direkte Anklage der Bergbaukonzerne, die seit Jahren in der Gegend um Marianas auf Gefahr der Stadt und ihrer Bewohner nach Eisenerz schürfen. Aber dennoch bleiben Lata und Wolfenson bewusst bei der distanzierten Beobachtung, schlagen sich nicht einfach auf eine Seite, schauen nicht nur auf die Folgen des Dammbruchs für das Leben der Anwohner und Brasiliens Natur, sondern öffnen ihren Blick auch für die Folgen im Bewusstsein der Opfer selbst.
Gesellschaftlich verursachte Katastrophen motivieren hier nicht mehr zum gesellschaftlichen Engagement, sondern führen in die Entfremdung. Die Schlammlawine mag eine Stadt unter sich begraben haben, aber nicht etwa den christlichen Glauben Marlons, der ein Poster von DaVincis Abendmahl aus den Ruinen seines Hauses evakuiert und sich einen kleinen Altar in seiner neuen Wohnung baut. Wenn er nicht gerade mit den Bauarbeitern streitet, die den Stadtteil neu errichten sollen, sehen wir Marlon allein in der noch unbebauten Gegend von Minas Gerais umherschlendern oder mit Kumpel Ricardo schäkern: „Michael Jackson, Tupac, Bob Marley, Bin Laden: Alle noch am Leben!“, bevor es dann schnell ernst wird: „Brasilien ist nicht mehr zu retten.“
Mach deine Arbeit! Bitte …

Etwas ist anders als sonst in einer Fabrik: Jemand wird ermahnt, seine Arbeit richtig zu machen, nicht so schluderig zu sein und noch ein paar Löcher zu bohren, so wie es sich gehört. Aber es gibt weder die Drohung von der einen noch bedingungslose Gehorsamkeit von der anderen Seite. Hier stattdessen nicht mehr als ein verzweifeltes „Bitte!“, dort nur die verdutzte Einsicht: „Na ja gut…“ Srđan Kovačevićs Film Factory to the Workers taucht ein in die kroatische Fabrik ITAS, die in den 1960er Jahren des sozialistischen Jugoslawiens gegründet wurde und 2005 privatisiert wurde: nur eben nicht in die Hände irgendeines einzelnen Investors oder Industriekartells gegeben, sondern in die der Arbeiter selbst.
Kovačevićs Film ist das Ergebnis einer seit 2015 durchgeführten Langzeitbeobachtung, in der man die observierende Haltung mit einem ernsthaften Erkenntnisinteresse zu jeder Zeit deutlich spürt. Weder ist hier ein antikommunistischer Film entstanden, der beweisen soll, dass die Idee von Produktionsmitteln, die den Arbeitern selbst gehören, längst auf den Müllhaufen der Geschichte gehört. Noch will der Film dem Kapitalismus da draußen mal so richtig zeigen, dass es auch anders sein könnte. Vielmehr fragt Kovačević, was eine selbstverwaltete Fabrik inmitten des globalisierten, freien Marktes bedeuten kann. Erstmal nicht viel, scheint die Antwort, denn genau dieser Inselstatus ist hier stets das Problem und der Wasserstand der Konkurrenz viel zu hoch. Es werden kaum noch Produkte verkauft, die eigens ausgebildeten jungen Arbeiter werden von höheren Gehältern weggelockt, und die eigenen Löhne müssen beständig gekürzt oder zurückgehalten werden, um es noch irgendwie durch die nächsten Tage zu schaffen. Neben zahlreichen Interviews mit Arbeitern, die sich mal den Stalinismus zurückwünschen, mal einfach nur stabile Verhältnisse wollen, verfolgt Factory to the Workers denn auch vor allem den Weg zur erfolgreichen Abstimmung über die Entlassung des selbstgewählten Fabrikmanagers.
Kovačević nimmt sich genug Zeit, die Gespräche drum herum einzufangen: Zeit für die verzweifelten Versuche des Managers, neue Geldquellen anzupumpen, und für die Resignation in seinem Gesicht. Für die zahlreichen Versammlungen mit der gesamten Belegschaft, in denen der gewählte Vertreter der Arbeiter voller Leidenschaft versucht, das Projekt am Leben zu erhalten und seine Kollegen zu ermutigen. Überhaupt für die zahlreichen Tränen, die der Kampf um den Arbeitsplatz in die Augen der Belegschaft schießen lässt. Nur dass es hier nicht unbedingt um ein ganzes Leben geht, das zusammenbricht, wenn der Arbeitsplatz verloren geht, sondern um ein gemeinsames Projekt, in dem man sich verwirklichen kann. Hier werden sicherlich ab und zu auch ein paar Maschinen gefertigt, aber die Fabrik der Arbeiter produziert vor allem eine andere Haltung zur Arbeit an sich.
Teufelszeug Technik

Ein ganz tiefer Blick in das Auge eröffnet diesen Film, nicht einfach Pupille und Lider, sondern kleine Äderchen im Hinteren des Auges erscheinen auf der Leinwand. Obwohl das Ganze „Sehnerv“ heißt, steht dann da geschrieben, empfängt eben dieser selbst keine visuellen Informationen, ist buchstäblich ein blind spot des Menschen und muss vom Gehirn unterstützt werden, um ein ganzes Sichtfeld herzustellen. Das, was wir sehen, will uns der Film wissen lassen, ist also nicht einfach objektiv gegeben, sondern subjektiv konstruiert.
Ein Beginn als Metapher für das gesamte Programm von Theo Anthonys Film All Light, Everywhere: Es geht um visuelle Techniken, die der Mensch entwickelt hat, und die Ergebnisse, Beobachtungen, Erkenntnisse, die damit produziert werden. Anthony besucht etwa einen Polizeikurs in Baltimore, in dem der Umgang mit neuen Body-Cams gelehrt wird, die Beweismaterial vor Gericht liefern sollen. Auch die Firma Axon, die neben jenen Kameras auch noch die Taser für die US-amerikanische Polizei herstellen, steht im Mittelpunkt seines Films. Und auch die Geschichte der Fotografie, des Films und ihrer zahlreichen Verwendungen wird mit aufwändig recherchiertem Material durchexerziert. Immer steht dabei so etwas wie die Unmöglichkeit jener reinen Objektivität im Mittelpunkt, die stets postuliert wird. Frühe Berechnungen von Planetenlaufbahnen und die daraus entstandenen Erkenntnisse werden ad absurdum geführt, weil man heute weiß, dass jede Nation ihre Messinstrumente auf andere Art und Weise gebaut hat.
In den besten Momenten treibt die Welt in Anthonys Film aber ganz von selbst über sich hinaus, wird ihrer eigenen Unwahrheiten, ihrer eigenen Unzulänglichkeit gewahr. Der fast schon karikaturartige Axon-Manager gibt unfreiwillig zu, dass seine Body-Cams möglichst der exakten Perspektive eines Polizisten entsprechen sollen, obwohl die technischen Möglichkeiten auch zulassen würden, mehr einzufangen, als der Polizist selbst wahrnehmen könnte. Und das von der Polizei gezeigte Video eines Einsatzes ist eben nicht einfach eine objektive Wahrheit, sondern lässt sofort eine Diskussion über die Unverhältnismäßigkeit des Einsatzes entbrennen.
Anthonys Film läuft manchmal Gefahr, gegen den Vorrang von Objektivität stur und fast schon reaktionär das subjektive Moment in Stellung zu bringen, anstatt die beiden in einer Balance zu halten. So erwecken die zahlreichen Beobachtungen von vermeintlicher Objektivität eine Art Technikpessimismus, als wären Maschine und Technik für die vielen Subjekte unserer Welt von jeher Teufelszeug gewesen. Nicht nur Axon stellt die Nähe zwischen Kamera und Waffe her, All Light, Everywhere interessiert sich besonders für frühe Fotografietechniken, die wie eine Kanone oder Gewehre aussahen. Erst zum Ende des Films besucht Anthony eine Versammlung von Vertretern der black community in Baltimore, die mit dem Entwickler eines vom Staat in urbanen Brennpunkten eingesetzten Überwachungsflugzeugs darüber diskutieren, wie diese Technik auch zu ihren Gunsten eingesetzt werden könnte. Vielleicht hätte es dem Film gutgetan, sich häufiger dieses anderen, progressiveren Potenzials bewusst zu werden, das die historische Entwicklung der visuellen Techniken eben auch eröffnet hat.
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